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# ... KünstlerTheorie
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# ... was ... Vilém Flusser ... an der Hochschule für Bildende Künste / BS am 22. Mai 1989 vorgetragen hat ...

auf Einladung des damaligen Vertretungsprofessors HP Dimke im FB Freie Kunst / Fotografie an der HBK Braunschweig hielt Vilém Flusser einen Vortrag, der im Studio der Filmklasse aufgezeichnet wurde ... und hier auf vimeo zu sehen ist: "Zu Besuch" / Datum: 22.05.1989 / Länge: 00:59:09 ... vimeo.com/flusservideocollection ...

On May 22, 1989, Vilém Flusser gave a lecture at the invitation of the then substitute professor Hans Peter Dimke in the Department of Liberal Arts and Photography at the Braunschweig University of Fine Arts, which was recorded in the studio of the film class. Title: Zu Besuch, HBK Braunschweig Genre: Lecture Location: Braunschweig, Germany Date (created): 1989-05-22 Date (published): 2012 Medium: Video Production: Film class of HBK Braunschweig, Gerhard Büttenbender Filmed by: Michael Sutor Edited by: Peter Dargel Length: 00:59:09 Language: German (de) VFA Video Index: DVD_004/03:

# ... KunstForschung 2023 ... nach Flusser, für eine KünstlerTheorie des Zwischenraums liegt vor (als Korrektur+Probe-Ausgabe) ...

die Aufsätze von Vilém Flusser, über ihn und die sich auf Flusser beziehen sind aus den Ausgaben 2020, 2021, 2022 zusammen gefasst ...
hier die digitale Fassung einiger Texte :

Denken und Vortragen ... Flusser, Vilém / an der HBK, BS / Videotranskript ...
Der Braunschweiger Loewe ... Flusser, Vilém / Scrollheim-Vorlaeufer: Kuenstlich 1/89 ...
Begegnungen ... Rainer Guldin, Gustavo Bernardo aus: Vilém Flusser, ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie ...
zu seiner Schrift: ... Flusser, Vilém / für eine Philosophie der Fotografie ...
Aufklärung der Einbildung ... Harald Brandt / Gespräche mit Vilém Flusser über die Wahrscheinlichkeit der Realität ...
prinzipiell gegen alle Collage ... HP Karl / künstlertheoretische Überlegungen, nach Flusser ...
für eine KünstlerTheorie des Zwischenraums, nach Flusser ... HP Karl / rückblickend kulturtheoretische + künstlertheoretische Überlegungen ...
zur KünstlerTheorie ... zur EinbildungsKraft ... HP Karl / kulturtheoretische + künstlertheoretische Überlegungen ...
Vilém Flusser´s „Höllensturz“ ... Maren Bünemann / aus der Erinnerung ...


Cover-Entwurf der Ausgabe KunstForschung 2023:
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nach Flusser, für eine KünstlerTheorie des Zwischenraums ... 124 farbige Seiten / A4 quer / Fadenbindung …

Titel und Autoren: ... Paris, Exil. Mehr Wandern als Wohnen / Judith N.Klein ... Die Quadratur der Kunst / Daniel Birnbaum, New York / acuteart ... Titel der Gedichte ... / aus dem Stunden-Buch ... Denken und Vortragen ... Vilém Flusser an der HBK, BS / Videotranskript von Steffi Winkler ... Hat uns der Himmel noch etwas zu sagen ? / von Peter Sloterdijk ... Fotografieren als Lebenseinstellung / Vilém Flusser ... Aufklärung der Einbildung - Vilém Flusser über die Wahrscheinlichkeit der Realität / von Harald Brandt ... von der Fotografie zur neuen Einbildungskraft / künstlertheoretische Überlegungen, nach Flusser ... Wahrheit : Unfassbar, steht das in den Sternen ? / eine künstlertheoretische Einordnung ... prinzipiell gegen alle Collage / künstlertheoretische Überlegungen, nach Flusser ... für eine KünstlerTheorie des Zwischenraums, nach Flusser / kulturtheoretische + künstlertheoretische Überlegungen ... zur KünstlerTheorie / zur EinbildungsKraft ... Vilém Flusser´s „Höllensturz“ / aus der Erinnerung von Maren Bünemann ... Wandel der Kommunikation / Bernhard Pörksen im Gespräch mit Michael Köhler ... Die Kunst der Zukunft, Über den Traum von der kreativen Maschine Hanno Rauterberg ... Kinderleicht: die Kunstgeschichte als Bilderschlange Tina Lüers ... zu Kippenberger Kippenberger’s Strategy ...


künstlertheoretische Überlegungen zu Vilém Flussers   Einbildungskraft, Übersetzen, Metaphern Sprache ...

... zur KünstlerTheorie:
der Begriff KünstlerTheorie unterscheidet sich von (allen) anderen Theorien, von wissenschaftlichen und auch von denen aus der bildenden Kunst, also: von Manifesten, DaDa, konkreter Poesie u.s.w. ... Der Künstler theoretisiert, indem er an der Bruchstelle der Moderne ansetzt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die Kunst von der Erscheinung des Werkes zu ihrer Konzeption hin verändert. Die konzeptionelle Wegbereitung, die Begleitung der Kunst und diese selbst, werden vom Künstler innerhalb seiner eigenen Zielsetzung betrieben. Das Sprechen und/oder Schreiben dabei ist eine KünstlerTheorie. Diese KünstlerTheorie ist nicht ein Teil seiner Kunst, sondern diese selbst. Allerdings geht es hier nicht um Arnold Gehlens ´Kommentarbedürftigkeit der Kunst´, nicht um den plausiblen Kommentar, schon gar nicht um eine Erklärung, die KünstlerTheorie ist ebenso Werk, also bildende Kunst. Die KünstlerTheorie ist durch eine Ästhetik im weitesten Sinne des wahrnehmenden Denkens geprägt ...

... zur EinbildungsKraft:
den Begriff Einbildungskraft hat Vilém Flusser von Kant übernommen und weiter gedacht. In seinen Briefen hat er mir mehrfach das Einbilden und sich selbst das Aufschreiben zugeteilt. Sein Denken hat er mit Transformieren, Übersetzen, mit Metapher und Einbildungskraft gleichgesetzt, aber damit ist es nur bedingt beschrieben oder bezeichnet. Er hat sich kaum auf die Moderne oder schon gar nicht auf die zeitgenössische Kunst bezogen, auch keine Namen fallen lassen, wie doch zuweilen in seinen philosophischen Bezügen. Auch in privaten Gesprächen gab die Einbildungskraft den Ton an, der sich ja in wundervollen Anregungen, außerordentlichen Behauptungen, erotischen Anspielungen und dramatischen Gesten äußerte.

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# ... was wir in den letzten Jahren ... gedanklich, kunstpraktisch + künstlertheoretisch ... zusammengetragen haben ...
möchten wir nun in einer dreibändigen Edition veröffentlichen - hier sehen Sie die Cover-Entwürfe zu den einzelnen Ausgaben ...

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der erste Band ... Thema ist das Leporello der Kunstgeschichte mit unserer Kunst+WunderKammer sowie Artikeln aus der Zeitschrift Scrollheim, also Heinrich+Kunigunde, Bildung der Erinnerung, "Der Braunschweiger Löwe" Flusser, Vilém usw. / 236 farbigen Seiten / A4 quer / Fadenbindung …

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der zweite Band ... hier stehen Fotografie, Collagen sowie Vilém Flusser´s "Philosophie der Fotografie" + ein ausführlicher Briefwechsel mit ihm auf 236 farbigen Seiten / A4 quer / Fadenbindung zur Debatte …

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das dritte Heft ist auf Buchstärke erweitert und handelt u.a. von der allgemeinen und fotografischen Unfassbarkeit der Wolken … Thema Wolken + Flüchtigkeit + Unfassbarkeit, "Fotografieren als Lebenseinstellung" Flusser, Vilém / 236 farbigen Seiten / A4 quer / Fadenbindung …

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Denken und Vortragen ... Flusser, Vilém / an der HBK, Braunschweig / Videotranskript von Steffi Winkler / 1989, 22. Mai (2012) ... (59‘09‘‘), Flusser Club e.V.

00:12 Der Grundgedanke, den ich Ihnen unterbreiten will und an dem ich seit einigen Jahren würge, ist folgender: Es sieht so aus, als seien wir seit einiger Zeit - sagen wir deutlich seit 150 Jahren - in einem radikalen Umbruch. Es sieht so aus, als ob wir zu einer existenziellen Umstellung unserer Einstellung der Welt gegenüber und uns selbst gegenüber gezwungen werden. 00:46 Ich werde versuchen diese Hypothese ein bisschen plausibler zu machen. 00:55 Und zwar äußert sich diese Umstellung unserer Einstellung in verschiedenen Gesten. Eine der Gesten, vielleicht die erste, in der diese Umstellung deutlich zum Ausdruck kommt, ist die Geste des Fotografierens. Also nehme ich das Fotografieren nicht so sehr seiner selbst willen, sondern als ein Symptom sehr ernst. 01:30 Die These die ich Ihnen unterbreite ist so radikal, dass ich, um eine Parallele für die Gegenwart zu finden, sehr weit zurückgreifen muss. 01:42  Ich werde zuerst versuchen, Ihnen pseudo-phänomenologisch zu schildern, wie es zur menschlichen Einstellung zur Welt gekommen ist und was dies für Folgen hatte. 02:00 Wie Sie wissen, ist die Gattung Mensch ungefähr vor zwei Millionen Jahren irgendwo in Ostafrika entstanden und zwar als Folge einer ökologischen Katastrophe. Ursprünglich waren wir, wie alle Anthropoiden, Baumbewohner, und unser Körper ist für dieses Baum bewohnen organisiert. Zum Beispiel sind unsere Hände gebaut, um sich an Ästen zu halten und sich von Ast zu Ast zu schwingen. Während der Katastrophe, von der ich spreche, sind die Bäume seltener geworden. Es wurde langsam kälter. Die Folge war, dass die Bäume schütterer wurden und es nötig war den Zwischenraum zwischen Baum und Baum irgendwie zu durchqueren. Dazu war der menschliche Organismus nicht gut geeignet. Es gab natürlich zwei Methoden, um diesen Zwischenraum zu durchqueren. Die eine war, sich auf die Hände zu stützen, also die Hände reaktionärerweise als Fortbewegungsorgane zu verwenden. Diese Alternative, falls ich die biologische Entwicklung anthropomorphisieren darf, diese Alternative wurde von den Schimpansen ergriffen. Eine andere Methode war, sich aufzurichten und mit den Füßen allein sich fortzubewegen. 03:50 Das war zwar außerordentlich unbequem und gefährlich, aber es war eine schnellere Fortbewegung. Es war unbequem, weil der ganze Körper sich irgendwie umorganisieren musste. Zum Beispiel waren die Eingeweide nicht mehr gestützt. Und da sich der ganze Organismus umstellen musste, stellte sich auch das zentrale Nervensystem um. Aber das existenzielle Problem war, dass die Hände jetzt im Leeren baumelten und nach nichts zu greifen hatten. Diese nutzlos gewordenen Hände begannen Bewegungen auszuführen, die eigentlich nicht im genetischen Programm vorgesehen sind. 04:44 Wie Sie wissen, nehmen Lebewesen drei Kategorien von Sektoren der Umwelt wahr: Das, was gut zum Essen ist, das, was gut zum kopulieren ist, und das, was gefährlich ist. Und gegenüber diesen drei interessanten Ausschnitten aus der Lebenswelt stellten sich die Lebewesen ein. Die arbeitslos gewordenen, die funktionslos gewordenen Hände fingen aber an Uninteressantes zu manipulieren. Also z.B. Steine und Knochen, mit denen man weder kopulieren kann, noch sie essen kann und die auch nicht gefährlich sind. Ich glaube Kant nennt das “Schön ist, was ohne Interesse gefällt”. Also Kant wurde damals geboren. 05:40 Und diese zwecklose Manipulation, z.B. das Ordnen von Steinen in Kreisen, ich spreche wie Sie wissen von Homo habilis, diese Einstellung ist, was wir menschlich nennen. Sie führte zu dem, was wir lose Kultur nennen. 06:07
Ich werde versuchen eine schnelle existenzielle Analyse dieser Umstellung Ihnen vor Augen zu führen. Durch das Aufstellen auf zwei Beine und durch dieses Freiwerden der Hände, wurde der Mensch aus der Lebenswelt vertrieben. Er war nicht mehr Teil der Lebenswelt. Ich erinnere sie an alle Mythen, z.B. an das goldene Zeitalter, so wie es die römischen Poeten schildern oder z.B. eine Geschichte vom Paradies. Es öffnete sich ein Abgrund zwischen dem Menschen und der Umwelt. Exakter gesagt, es entstand die Umwelt. Die Lebenswelt zersprang in zwei Teile: in jenen, in dem wir standen, und in jenen, dem wir gegenüberstanden. 07:06 Es entstand einerseits die objektive Welt und andererseits das menschliche Subjekt. Und diesen Abgrund der Entfremdung versuchten wir mittels Händen zu überbrücken. Das ist ja, glaube ich, die Basis des Marxismus, also nicht nur Kant, auch Marx wurde damals geboren. Nicht wahr? Der Versuch uns durch Arbeit zu naturalisieren und die Natur durch Arbeit zu humanisieren, also dank Händen den Bruch zwischen uns und der Welt zu heilen. 07:48 Versuchen Sie bitte dieses Schema nachzuvollziehen. Also einerseits die objektive Welt und andererseits der Mensch als Subjekt. Und die Geste des Subjektes gegenüber der objektiven Welt war das Behandeln. Wenn Sie sich das Behandeln näher ansehen, so sehen Sie, dass es eigentlich aus drei Gesten besteht: aus dem Erfassen, aus dem Verstehen und aus dem Erzeugen. 08:26 Und wenn Sie sich fassen und verstehen, to understand, comprehende, wenn Sie sich das näher ansehen, so sehen Sie, dass es eigentlich darum geht, aus der Lebenswelt Teile herauszureißen und still stehen zu lassen. 08:52 ausdrücken wollen: aus der uns angehenden Lebenswelt, aus diesem vierdimensionalen Kontext Elemente herauszureißen, die Zeit aus ihnen zu entfernen. 09:07 Instrumente, Werkzeuge, Kultur sind aus dem vierdimensionalen Kontext herausgerissene Sektoren, die dadurch abstrahiert, herausgezogen und dreidimensional werden. 09:29 Die Existenz des Subjektes war ein Schritt zurück aus der Lebenswelt. Und das Resultat des Schritts zurück war das Extrapolieren, das Abstrahieren der Zeitdimension.
Aber mit diesem Schritt zurück war es nicht getan. 09:51 Als unsere Spezies Homo sapiens sapiens auf die Szene tritt, also zwei Millionen Jahre später, sagen wir vor 40.000 Jahren irgendwo an der Dordogne, wurde ein zweiter Schritt in die Abstraktion getan. Nämlich, wenn man sich von Kultur umgibt wenn man sich von Objekten, behandelten Objekten umgibt, dann stößt man gegen diese Objekte. Man kann sich nicht gut darin orientieren. Man sieht die Dinge, die Sachen, aber nicht den Sachverhalt. Nicht den Kontext. Um einen Überblick über den Kontext zu gewinnen, muss man einen weiteren Schritt zurück davon leisten. Wohin dieser Schritt zurück geleistet wird, mag offenstehen, ich will es die Subjektivität nennen. 10:52 Das Subjekt kann von der Welt, von der Umwelt und von der Kultur in seine Subjektivität zurückschreiten und derart einen Überblick über die Sachen gewinnen. Also, den Wald sehen und nicht nur lauter Bäume. 11:13 Und diese Fähigkeit des Zurückschreitens aus der objektiven Welt nennt man Imagination. Und wir haben davon Belege, z.B. die Höhlenmalereien in Lascaux. Bedenken Sie, was geschah, als man begann zu malen. Ich glaube, Sie sind Schüler einer Kunstakademie, und das nennt man, glaube ich, was die Leute in Lascaux gemacht haben, bei Ihnen freie Künste. Also möchte ich darauf ein bisschen eingehen, was bei so einer Sache vor sich geht. 11:47 Man tritt von der Kultur zurück, die Natur ist schon damals beinahe unsichtbar, als man genau zwischen Kultur und Natur unterscheidet. Die sich anbietende Definition ist: Natur ist die Summe alles Gegebenen, also aller Daten, Kultur ist die Summe alles Gemachten, also aller Fakten. Sehr bald ist der Mensch nur noch von Fakten umzingelt und kann die Daten nur zwischen den Fakten erahnen. Vielleicht werden Sie mich dazu in Frage stellen. Das ist schon eine sehr radikale Behauptung. 12:32 Nun, um sich in dieser faktischen Welt orientieren zu können, tritt man davon zurück und gewinnt eine Weltanschauung. Diese Weltanschauung ist subjektiv und flüchtig. Soll aber die Weltanschauung den anderen als Orientation dienen, dann muss diese flüchtige und subjektive Ansicht festgehalten und anderen zugänglich gemacht werden. Sie muss in Gedächtnisse eingetragen werden, z.B. auf Felswände, und sie muss kodifiziert werden, intersubjektiviert werden, damit die anderen die so gewonnenen Informationen aus diesem Gedächtnis abrufen können. 13:22 Also ein Bild herstellen, malen, hat in Wirklichkeit drei Phasen: zuerst der Rücktritt in die Subjektivität, dann die Technik des Festhaltens des flüchtig Ersehenen in oder auf einem Gedächtnis und schließlich die Kodifikation des Ersehenen, so, damit es intersubjektiv werde. Wenn Sie die Bewegung eines Malers beobachten, dann werden Sie an dieser Geste, das, was ich ihnen zu sagen versuche, wiedererkennen. Der Maler tritt immer wieder von der Leinwand zurück, die ja, wie alle Mediation einen inneren Widerspruch in sich birgt. Einerseits ist sie bereits aus der objektiven Welt durch Abstraktion entfernt worden, andererseits ist sie aber Objekt. Das kann man im Deutschen sehr gut ausdrücken. Sie stellt etwas vor, vor das sie sich stellt. 14:27 Infolgedessen können sie beobachten, wie ein Maler von dieser objektiv gewordenen Imagination immer wieder zurücktritt, um einen neuen Überblick über die im Begriff stehende Mediation zu gewinnen.
14:49 Lassen Sie mich schnell die Geschichte der Menschheit zu Ende zu erzählen. (Lacher) Ungefähr vor viereinhalb tausend Jahren machte man aus Gründen, die ich keine Zeit hab, hier zu besprechen, die aber vielleicht in der Diskussion herauskommen werden, einen weiteren Schritt zurück. Diesmal einen Schritt zurück aus der Imagination. Da die Imagination, wie gesagt, an einer inneren Dialektik leidet, da sie verstellt, was sie vorstellt, führt sie zu einer Disorientation. Anstatt, dass sich die Menschen anhand von Bildern in der Welt orientieren, beginnen sie sich in den Bildern anhand von Welterfahrung zu orientieren und infolgedessen versuchen sie nicht die Welt zu verändern, um wieder zurück zu finden, sondern das Bild zu verändern. Und diese Bilderanbetung, diese Idolatrie ist das magische Bewusstsein. 15:55 Um sich von diesem magischen Bewusstsein zu befreien, trat man in der zweiten Hälfte des dritten Jahrtausends von den Bildern selbst zurück, aus der Imagination zurück, riss aus den Bildern die Bildelemente, die Pixel heraus und reihte sie zu Reihen, zu Zeilen, um die Bilder wieder für die Welt durchsichtig zu machen, um die Bilder zu erklären. 16:24 Das ist, phänomenologisch gesehen, die Bewegung der Erfindung der linearen Schrift. Damit entzog man aus der Zweidimensionalität der Imagination die eine Dimension und fasste die Unidimensionalität des prozessuellen Denkens. Mit der Erfindung der Schrift und vor allem jener des Alphabets trat man einen Schritt zurück aus der Imagination in das prozessuelle, lineare, kurz historische, rationale, kausale Denken. Geschichte im eigentlichen Sinn des Wortes beginnt mit der Erfindung der Schrift, weil nämlich vor der Erfindung der Schrift nichts als ein Geschehen, sondern alles als ein Ereignis erlebt wurde. Die Erfindung der Schrift leitet die Geschichte ein, nicht weil sie Geschehnisse festhält, sondern weil sie Geschehnisse überhaupt denkbar und erlebbar gestaltet.
17:33 Ich werde die Geschichte jetzt schnell zu Ende führen. Aus Gründen, die ich auch auslassen muss, erwies es sich, dass das lineare prozessuale Denken für die Welt nicht gut adäquat ist. Dass man die Welt nicht beschreiben kann, dass man sie aber zählen kann. Es erwies sich sehr bald, aber deutlich eigentlich erst zu Beginn der Renaissance, dass das buchstäbliche Denken, das prozessuelle fortschrittliche Denken für die Welt nicht adäquat ist, aber dass wir eine andere Möglichkeit haben uns zur Welt einzustellen, nämlich kalkulatorisch. 18:20 Dass es möglich ist mit Hilfe von Zahlen die Welt zu erkennen und ihrer habhaft zu werden. Dass Wissen nur dann zur Macht führen kann, wenn man die Wissenschaft in Zahlen ausdrückt und diese Zahlen dann der Technik übergibt - falls Sie unter Wissenschaft Wissen und unter Technik Macht verstehen. Also dann ist ja die Technik die Art, wie das Wissen zur Macht kommt. 18:46 Und dies war nur praktikabel, wenn man die Buchstaben aufgab und sich auf Zahlen konzentrierte. Ich sage Ihnen dazu nur Schlagworte: Der erste Versuch die Buchstaben zugunsten der Zahlen aufzugeben, ist Descartes, der versucht an alle Punkte der ausgedehnten Sache, denn damals hielt er die Welt für eine ausgedehnte Sache, an alle Punkte der ausgedehnten Sache Zahlen zu heften und dadurch dieser Punkte habhaft zu werden. Analytische Geometrie war der erste Versuch, die denkende Sache als arithmetische Sache verstanden, also die klare und deutliche denkende Sache res cogitans an die ausgedehnte Sache res extensa anzugleichen. 19:38 Adaequatio intellectus ad rem. Dann stellte sich heraus, dass in den Lücken des arithmetischen Denkens.. denn das arithmetische Denken ist deutlich, weil zwischen je zwei Zahlen ein Abgrund klafft. Zwischen 1 und 2 ist ein Loch, das man nicht füllen kann, denn wenn Sie dazwischen 1,1 einfügen, dann klafft das Loch zwischen 1 und 1,1. 20:03 Also, es entstand das typisch moderne epistemologische Problem, wie kann ich die Löcher im klaren und deutlichen Denken, clara et distincta perceptio, füllen. Und die Lösung wurde von Newton und Leibniz geboten, als man ein höheres Niveau von Zahlen erfand, deren Funktion es war, die Lücken zu füllen, oder um das eleganter zu sagen: die Differentiale zu integrieren. In dem Moment, wo man die Differentialgleichung erfunden hatte, wurde das kalkulatorische Zahlendenken für die Welt adäquat. Die Welt ließ sich in Differentialgleichungen artikulieren. Es gab kein Problem, das nicht so formuliert werden konnte. Und diese Formeln konnten der Technik übergeben werden. 20:54 Zu Ende des 19. Jahrhunderts sah es nun so aus, als ob wir an die von Gott freigelassene Stelle eingetreten seien, als ob wir allmächtig und auch allwissend seien. 21:12 Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts und schon früher im 19. Jahrhundert begann sich der Verdacht immer mehr zu verstärken, dass dies eine Täuschung ist. Einerseits eine theoretische Täuschung, denn in dem Maß in dem das Zahlendenken, das nulldimensionale Denken, denn das Zahlendenken ist formell und nulldimensional und hat alle Zeit- und Raum-Dimensionen aus sich abstrahiert. Das meint Wittgenstein, wenn er sagt, dass es sinnlos sei zu sagen, eins und eins sei zwei um vier Uhr nachmittags. Wir befinden uns, wenn wir formal denken im Reich der platonischen, ewigen, unveränderlichen Ideen. Was wir uns ja meistens nicht deutlich machen. 1 und 1 ist 2 ist eine typische Idee, so wie sie Platon im topos uranios ansiedelt. 22:09 Es begann sich zu Ende des 19. Jahrhunderts herauszustellen, dass die Welt die Struktur des arithmetischen Denkens annimmt, dass die Welt nicht mehr eine ausgedehnte Sache ist, sondern ein Punkt-Schwarm, ein Partikel-Gestöber und zwar in jeder Hinsicht und auf jedem Niveau - nicht nur in der Physik im Sinne der Atom-Partikel, sondern alles ist kalkulierbar, zersetzbar, z.B. das Leben in Gene, das Denken in die Dezideme, die Sprache in Phoneme und so weiter, die Kultur in Kultureme. Ich lasse ihn frei sich vorzustellen.. Es gilt für alle Gebiete, alles beginnt zu Ende des 19. Jahrhunderts in Punkt-Schwarm zu zerfallen. 23:05 Infolgedessen gibt es kein Problem mehr, das reine und deutliche Denken, das klare und deutliche Denken anzupassen. Folgen Sie mir? (Lacher) 23:16
Es besteht kein Problem mehr, das arithmetische Denken an die Welt anzupassen, so wie das im Fall Descartes war, sondern die Welt hat dieselbe Struktur wie unser Denken. Und das natürlich erweckt ein großes Misstrauen. Ist es nicht etwa so, dass die Welt diese Struktur hat, weil wir sie hinaus projiziert haben? Ist es nicht etwa so, dass die Naturgesetze von uns nicht entdeckt werden, sondern im Gegenteil von uns zuerst einmal ausgerechnet werden, dann in die Welt hinaus projiziert werden und dann von uns wieder zurückgeholt werden? Vielleicht entdecken wir die Naturgesetze gar nicht, sondern wir erfinden sie? Vielleicht hat Wittgenstein recht, wenn er sagt, dass ein Stein mit geometrischer Beschleunigung fällt, weil er sonst kein Stein wäre? 24:10 Also, es entsteht ein theoretischer Zweifel. Ist das Wissen theoretisch fundiert? Eine neue Art von Skepsis, nicht die Hume’sche, sondern eine andere, beginnt um sich zu greifen. Und ich will die Sache nicht dadurch verkomplizieren, dass man ja dann die Interferenz zu dem Subjekt und Objekt in den Griff bekommt. Nicht nur in Form des sogenannten, berüchtigten Heisenberg’schen Prinzips, sondern in jeder Hinsicht. Ein Psychoanalytiker ist im Analysanden derart verflochten, dass es vielleicht keinen Sinn hat zwischen einem Analysierten und einem Analysanden unterscheiden zu wollen. Subjekt und Objekt beginnen theoretisch zu verschwimmen. 25:02 Aber es hat auch eine praktische und viel gewaltige Problematik. Die Tatsache, dass alles in Differentialgleichungen formuliert werden kann, kann in diesem Sinn gewissermaßen als Allwissen verstanden werden. Aber um dieses Wissen zur Macht zu bringen, das heißt um es technisch applizieren zu können, muss man diese Gleichungen renummerisieren, das heißt man muss sie aus der Ebene der höheren Mathematik in die sogenannten, fälschlich sogenannten, natürlichen Zahlen zurück codieren. Das dauert lange, weil komplizierte Prozesse komplizierte Gleichungen zur Folge haben und je interessanter ein Prozess ist, desto komplizierter ist er. Und diese komplizierten Gleichungen dauern lange, bevor sie zurück nummeriert werden. In vielen Fällen länger als ein Menschenleben und in den interessanten Fällen länger als die voraussichtliche Dauer des Universums. 26:04 Infolgedessen stellt sich heraus, dass selbst wenn wir an das Wissen der Wissenschaft glauben, die Wissenschaft praktisch nutzlos ist. 26:11 Es ist ein Zusammenbruch des Glaubens an die Möglichkeit Wissen in Macht umzusetzen. Das ist, glaube ich, dieser Verlust des Vertrauens zur reinen Vernunft, ist glaube ich eine der Wurzeln unserer gegenwärtigen Krise und, das sage ich in Deutschland, anderswo sage ich das nicht, ohne diese Krise wäre z.B. Nazismus nicht denkbar, ohne diesen Schiffbruch des Glaubens an die reine Vernunft. In dieser Situation hat man Rechenmaschinen erfunden. Die Rechenmaschinen hatten die Absicht, die Zeit zum Rücknummerisieren von Differentialgleichungen zu verkürzen. Anstatt, dass Tausende von Angestellten in den Ingenieurbüros Tag und Nacht Papiere mit Gleichungen füllen, konnten diese Rechenmaschinen viel schneller kalkulieren. Nicht schnell genug, um alle Probleme zu lösen, aber doch eine ganze Reihe von Problemen wurden dadurch in den Griff bekommen. 27:12 Und diese Rechenmaschinen hatten zwei Überraschungen zur Folge. Und von diesen Überraschungen möchte ich heute.. Ich spreche schon ziemlich lang, kann ich weiter so? (Lachen) Ich bin noch nicht zum Thema gekommen. (Mehr Lachen) 27:33 Diese Rechenmaschinen boten zwei kolossale Überraschungen. Die erste war - ich bitte die Künstler unter Ihnen möchten sich das zu Gemüte führen -, die erste Überraschung war, dass Maschinen so schnell zählen und so dumm zählen, dass sie es gar nicht nötig haben, die in der Neuzeit ausgearbeiteten mathematischen Strategien zu verwenden. Sie können mit zwei Fingern zählen, digitalisieren. Und das wieder bedeutet, dass die höchste menschliche Fähigkeit, die höchste Abstraktion, zu der wir uns aufgeschwungen haben, nämlich das mathematische Denken mechanisierbar ist und des Menschen unwürdig. Und das zwang die Leute von der Mathematik einen Schritt weiter zurückzugehen. Scheinbar geht das ja nicht, denn mehr als nulldimensional gibt es nicht. Scheinbar war ja der Prozess der Menschwerdung beendet. Ich kam von der vierten in die dritte, von der dritten in die zweite - lassen wir mal das fraktale Denken für den Moment aus. 28:37 Ich kam von der vierten Dimension in die dritte - gehen und Kultur machen. Von der dritten in die zweite - und Bilder machen. Von der zweiten in die erste - und schreiben. Und von der ersten in die nullte - und rechnen. Aber weiter kann ich doch nicht zurück? Mehr als nur kann ich doch nicht erreichen. Aber die Rechenmaschinen zwangen zu einem weiteren Schritt, nämlich hinaus aus dem mathematischen Denken in jenes Denken, von dem aus die Maschinen programmiert werden. Das heißt in Systemanalyse und Systemsynthese. Und diese Ebene des Denkens gleicht sehr dem, was Platon das reine Philosophieren nannte, nämlich das Betrachten der ewigen Ideen. Die erste Überraschung bei den Rechenmaschinen war, dass sie uns in platonisches Philosophieren hineingezogen haben, auch wenn dieses Philosophieren, wie Sie wissen, wenn Sie sich die Software-Leute anschauen, nicht genau das ist, was Platon in der Akademie vor Augen hatte. (Lachen) 29:38 Die zweite Überraschung.. Ich meine das für Sie Künstler, denn das Argument Platons gegen die Kunst und gegen die Schrift wird dadurch greifbar. Vielleicht werden wir darauf eingehen. Die zwei Überraschungen war noch gewaltiger. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Rechenmaschinen Gleichungen nicht nur kalkulieren können, nicht nur in Bits zerlegen können, sondern dass sie diese Bits auch wieder zusammenfügen können, zusammenraffen können. Kurz und gut gesagt, dass sie auch komputieren können. Und das war eine gewaltige Überraschung, denn was machen da diese Maschinen? Sie nehmen einen Algorithmus, eine Gleichung, zerlegen ihn in Bits und dann machen sie aus diesen Bits auf Schirmen z.B. Linien und Flächen, synthetische Bilder oder künftig computergesteuerte Hologramme und bewegte Hologramme, das heißt Volumina und bewegte Volumina. 30:33 Wenn Sie das zusammen geben mit diesem seltsamen Verdacht, dass die Welt der Schwärme, die uns umgibt, ja Projektion von uns ist, dass wir den Kontakt mit der Wirklichkeit definitiv verloren haben. Und selbst, wenn wir uns auf die Sinne stützen, so wissen wir doch heute, dass die Sinne aus Punkten die wahrgenommene Welt komputieren. Die Sinne empfangen doch digitale Reize. Die Nervenenden unseres Nervensystems empfangen Reize von 1-und-0-Art, wir haben keinen starken und schwachen Empfindungen, sondern wir empfinden etwas oder empfinden es nicht. Und diese punktartigen Reize werden im Nervensystem zu Wahrnehmungen prozessiert, die wahrgenommene Welt, die sinnliche Welt ist Resultat einer Komputation unseres Nervensystems. 31:25 Und aufgrund dieser Wahrnehmungen werden dann die weiteren mentalen Prozesse, wie Empfindungen, Sensationen, Gedanken, Wünsche, Entscheidungen und so weiter, prozessiert. Also, der Verdacht, dass die Welt, so wie wir sie wahrnehmen, eine Komputation ist, und dass Konkretizität eine Frage von Streuung von Punkt-Elementen ist. Und wenn Sie diesen Verdacht koppeln mit der Entdeckung, dass man alternative Welten komputieren kann und dass diese Komputation ebenso eine Frage der Streuung ist, wie die wahrgenommene Welt. Dass also z.B. die These möglich ist, ein Hologramm eines Tisches herzustellen, das genauso dicht gestreut ist, wie der Tisch selbst, und dass dann eine Unterscheidung zwischen dem Hologramm des Tisches und dem Tisch nicht nur von der Empfindung her, sondern auch ontologisch keinen Sinn hat. Dass es keinen Sinn hat, zu sagen, dass Hologramm simuliert den Tisch oder der Tisch simuliert das Hologramm. Das ist die Debatte, die ich mit Baudrillard habe. Das Wort simulacre hat dann überhaupt keinen Sinn, denn es gibt ja nichts Simulierendes und nichts zu Simulierendes, sondern alles ist komputiert. Und das ist nicht etwa immateriell, wie Lyotard meint, sondern substanzlos. Vielleicht werden wir auf den Unterschied zwischen immateriell und substanzlos noch zu sprechen kommen, denn das Wort immateriell riecht schlecht, denn wir wissen ja, dass Materie nichts anderes ist als ein Aggregatzustand von Energie. Ich kann ja sagen, Materie ist ja nichts anderes als dicht geballte Energie. 33:01 Also, wenn ich immateriell sage, müsste ich auch in-energetisch sagen, was ein Unsinn ist. Ich würde sagen, substanzlose Projektionen, alternative Welten können wir herstellen.
33:16 In dem Moment, wo wir uns das nahe bringen, und jetzt komme ich zum Thema dieses Vortrags, etwas verspätet allerdings.. 33:27 Wenn wir uns dies zu Gemüte führen, dann merken wir, dass etwas in unserer Einstellung zur Welt sich verändert hat. Wir benehmen uns nicht mehr wie Subjekte von Objekten. Wir neigen uns nicht mehr über die Welt, um sie zu erkennen und zu behandeln. Oder wir neigen uns nicht mehr vor etwas Transzendentem, sagen wir vor Naturgesetzen. Sondern jetzt haben wir sozusagen nichts mehr um uns herum. Und auch nichts mehr in uns drin. Denn das kalkulatorische Denken hat ja nicht nur die Umwelt in einen Punkt-Schwarm zersetzt, sondern ebenso das sogenannte Ich - von Individuum ist keine Rede, denn es ist ja nichts unteilbar. Das Wort Individuum ist ein archaischer Block in unserem Denken. Wir können uns etwas Individuales nicht mehr vorstellen. Wir können uns nicht vorstellen, dass unsere Kalkulation, unsere Teilung irgendwo an eine Grenze stößt. 34:29 Wenn wir uns selbst analysieren, sei es vom Standpunkt der Neurophysiologie, sei es vom Standpunkt der Psychologie, sei es auch von einer Existenzanalyse, dann finden wir uns in uns keinen Kern, mit dem wir uns irgendwie identifizieren könnten. Wir finden in uns keinen Geist, keine Seele, kein Ich, kein Selbst, sondern die Analyse schreitet immer weiter fort und es erweist sich, dass wir eine Art von Zwiebel sind und je mehr wir sie schälen, desto weniger bleibt uns etwas in der Hand. 35:04 Also dieser Abgrund des Nichts, um es mit Sartre zu sagen, der sich in uns öffnet, so haben wir uns zu verstehen. Und wie können wir uns dann identifizieren? Wir können uns nicht - und das Problem der Identität und der Differenz ist ja zum Zentral-Problem unserer Zeit geworden, nicht nur seit Heidegger. Es stellt sich nämlich dann die Frage, wie kann ich mich identifizieren, denn der logische Unsinn, wenn ich sage, ich identifiziere mich mit etwas in mir, dieser Widerspruch, diese Schwanz fressende Schlange fällt ab 35:48 und es wird klar, dass wir uns nur mit etwas außer uns identifizieren können, mit einem Anderen. Um das nach dem Sinne der Existenzanalyse zu sagen: Ich ist, wozu Du gesagt wird. Und das ist reversibel und reziprok. Du bist, wozu ich Du sage. Wir erkennen uns dann, und das ist die neue Anthropologie, wir erkennen uns dann als Knoten von intersubjektiven und anderen Relationen und identifizieren uns in Funktion dieser Relationen. 36:23 Um das noch dramatischer zu sagen, ich glaube das ist schon genug dramatisch und ich will es noch dramatischer sagen: Ursprünglich, bevor wir das menschliche Bewusstsein hatten, identifizierten wir uns als ein man, ein on, das, was Nietzsche das Publikum nannte. Dann langsam arbeitete sich der Ich-Begriff heraus und jetzt wird dieser zugunsten des Wir-Begriffs aufgegeben. Ich kann mich nur im Verhältnis zum Du, also als ein in ein Feld von Wir Eingetauchtes erkennen.
37:05 Ich bitte Sie, dass was ich jetzt gesagt habe, sich zu versuchen vorzustellen. Es gibt Bilder, die das erlauben. Denken Sie an ein Drahtgeflecht, so wie es auf den Schirmen von Computern erscheint. Sie füttern Algorithmen in den Computer, der Computer verwandelt diese Algorithmen in ein Drahtgeflecht. Das Drahtgeflecht stellt die Verhältnisse, die Relationen dar, die in den Algorithmen ausgedrückt werden. Und dank diesem Drahtgeflecht können wir eine Weltanschauung gewinnen. Ich gebe ein evidentes Beispiel: Ich bin viel älter als die meisten von Ihnen und ich habe mir das Sonnensystem noch immer vorgestellt als einen Sachverhalt, das heißt in der Mitte ist die Sonne und darum kreisen die Planeten und um die Planeten kreisen die Monde. Sie, die viel jünger sind, haben natürlich dieses primitive objektivierende Bild längst hinter sich gelassen. Sie sehen eine Krümmung im gravitationellen Feld. (Lachen) 38:12 Dort, wo die gravitationellen Verhältnisse am dichtesten werden, in diesem untersten Tal steht die Sonne. Die Sonne ist ein kurzer Name, eine Abkürzung für Verdichtung von gravitationellen Relationen. Um dieses Tal herum gibt es Täler, die wie Taschen an dem großen Tal hängen, z.B. gibt es ein kleines Tal, das benennen wir kurz gesagt Merkur, und darüber gibt es ein anderes und das nennen wir kurz gesagt Venus, und darüber ist ein anderes und das nennen wir kurz gesagt Erde, und daneben ist noch ein kleines, das nennen wir Mond, und darüber ist noch eins und das nennen wir Mars, und so weiter. 38:52 Und das ist nicht nur eine theoretische Sicht, sondern das benutzt man, wie Sie wissen für Astronautik. Wenn Sie z.B. von hier auf den Mond wollen, dann müssen Sie.. auf den Mond wäre einfach.. aber sagen wir auf den Mars wollen, dann müssen Sie zuerst das Tal der Erde überwinden, wenn Sie dann nichts tun, dann laufen Sie direkt in die Sonne, also müssen Sie noch ein bisschen die Anziehungskraft der Sonne überwinden und dann fallen Sie von selbst in das Loch vom Mars. 39:20 Also das, was ich von der Astronomie gesagt habe, gilt selbstredend von allem. Sie können z.B. sich ein Wasserstoffatom als eine Krümmung im elektromagnetischen Feld vorstellen. Da, worin sich ein Proton und ein Elektron zu einer spezifischen Verdichtung sammeln und so entsteht aus Energie Materie. Und dasselbe können Sie natürlich vom Ökosystem sagen. Wären Ihre Grünen ein bisschen zivilisierter, sie würden Ihnen die Ökosysteme als Drahtgeflechte schon vor Augen geführt haben. 39:56 Und das können Sie in der Psychologie sagen und das können Sie.. Überall haben Sie dieses Bild von miteinander interferierenden Relationsfeldern, die leider nicht unifiziert werden können. 40:08 Die Welt ist viel komplizierter, als sich das unsere Urgroßväter vorgestellt haben. Wenn Sie eine derartige Weltanschauung und eine darin implizite Anthropologie gewinnen, dann ist selbstredend die subjektive Einstellung nicht mehr tunlich. Wir können nicht mehr Subjekte sein, wo es keine Objekte gibt. Denn Subjekt ist doch Subjekt von Objekten, ebenso wie Objekt ein Objekt von Subjekten ist. In dem Maß, in dem Objekte verloren gehen, gehen auch die Subjekte verloren. 40:39 Wir können - Subjekt heißt deutsch, glaube ich, Untertan - wir können diese untertänige Einstellung nicht mehr beibehalten. Wir können uns nicht mehr beugen. Und die Radikalität meiner Behauptung ist, dass wir zum zweiten Mal daran sind, uns mühsam aufzurichten. Dass wir nicht mehr einer objektiven Welt gegenüberstehen, sondern allein - als Wir - Hand in Hand dem Nichts entgegen stehen und uns auf dieses Nichts projizieren. Um das in einer schönen Fassung zu sagen, wir werden von Subjekten zu Projekten. Oder um das zu verdeutschen, wir werden von Unterworfenen zu Entwürfen. 41:29 Ohne auf Heideggers Problem von Verfall und Entwurf einzugehen. Aber in all diesen Leuten, schwingt ja das schon mit, was heute Gemeingut geworden ist, denn was ich Ihnen sage, ist ja nicht auf meinem Kohl gewachsen, sondern ist ja Gemeingut. 41:47
41:47 Nun habe ich behauptet, eingangs, und jetzt muss ich das leider abkürzen, weil ich schon zu lange geredet habe, und ich werde jetzt medias in res gehen, ohne Ausflüchte zu machen. So eine Umstellung der Einstellung aus der Subjektivität in die Projektivität, so eine Umstellung der Ontologie, die Objektivität zugunsten von Projektivität aufgibt, muss sich doch in irgendwelchen Gesten äußern. Sie werden mir sagen, selbstredend, es äußert sich bei unseren Kindern vor den Computer-Schirmen. Das sind doch typische vernetzte Projektoren, die alternative Welten, wenn auch idiotisch, projizieren. [Lachen] Dass es ist idiotisch ist, spielt dabei gar keine Rolle, wir lernen das ABC der neuen Einstellung. 42:39 [...] 42:59 Also was wir vor Augen haben, sind lauter schlecht projizierende, funktionierende, idiotische erste Entwürfe. Nicht alle, manche sind interessant. Also die Frage ist, wie äußert sich denn das, außer im Spekulieren. Wie äußert sich diese Umstellung, außer in diesem seltsamen Misstrauen zur reinen Vernunft, in diesem seltsamen Misstrauen zu Technik. Ich sage seltsam, weil ja dank diesem Misstrauen die reine Vernunft und die Technik desto besser vorgeht. Denn das Misstrauen ist doch in der Wissenschaft und der Technik eingebaut. Das großartige am wissenschaftlichen Denken ist doch, dass es nicht beweisen will, sondern widerlegen, dass eine Hypothese nur dann interessant ist, wenn sie widerlegt ist. 43:50
43:54 Also gut, wie äußert sich das, außer in diesen reinen Gedanken. Und ich denke mir, dass es sich in der Fotografie ganz besonders deutlich äußert. Ich habe versucht, Ihnen das Malen phänomenologisch zu beschreiben. Ich habe gesagt, das Malen besteht aus drei Bewegungen: dem Rückschritt in die Subjektivität, dem Festhalten des dort Ersehenen in Gedächtnissen und dem Codieren des Ersehenen, um es zu intersubjektivieren.
44:30 Ich werde jetzt ebenso versuchen – als Parallele – aber Sie können sich dagegen wehren, denn Parallelen und Metaphern sind ja immer außerordentlich.. Wissen Sie, mein ganzer Vortrag ist metaphorisch, wie Sie gemerkt haben, Metaphern sind außerordentlich gefährliche Denkstrategien, aber es sind sehr schöne Denkstrategien. [Lachen] Es ist vielleicht sogar richtig, wenn man wie Kuhn behauptet, dass alles Denken metaphorisch ist. Ich empfehle Ihnen da ein Buch, falls Sie Einwände gegen mein metaphorisches Denken haben, empfehle ich Ihnen ein Buch von Kuhn What is metaphor a metaphor for? 45:08 Wofür ist Metapher eine Metapher. Wo er zu zeigen versucht, dass Denken und Metapher eigentlich synonym sind. 45:17
45:18 Gut. Also, ich werde bei der Metapher bleiben und ich werde versuchen, Ihnen jetzt die fotografische Geste vor Augen zu führen. Sie besteht aus drei Phasen. Man stellt ein, man nimmt auf und man stellt aus. Ich werde auf die etymologischen Probleme dieser Worte nicht eingehen. Denn was heißt einstellen? Instituere, wenn Sie wollen. Und was stellt man eigentlich ein? Stellt man sich ein, stellt man einen Apparat ein, stellt man sich mit einem Apparat ein, stellt man den Apparat in Funktion seiner selbst ein, stellt man sich selbst in Funktion des Apparats ein? All dies wird vielleicht dieser bekannte Satz: Der Apparat macht, was ich will, aber ich kann nur wollen, was der Apparat kann. [Lachen im Publikum] Dieser Grundsatz alles apparatischen Denkens, der ja wegfegt diesen blöden Einwand: Apparat einerseits - Apparate sind Idioten und sie machen nur, was wir ihnen einstecken - und andererseits den noch blöderen Einwand: Apparate werden Herr über uns und wir werden ihnen dienen. 46:36 Es ist eine Verzwickung und eine Verzweigung und eine Vernetzung da, dank welcher die Apparate in Funktion unserer und wir in Funktion der Apparate handeln. 46:48
Also abgesehen von dem Problem, was in dem Wort einstellen überhaupt steckt, können Sie sich ja vorstellen, was das eigentlich bedeutet. Ich werde dann darüber sprechen. Was heißt aufnehmen, was wird denn aufgenommen? Aufnehmen ist natürlich ein kolossal komplexer Begriff. Denn aufnehmen ist ja dasselbe, wie erzeugen und produzieren. Erzeugen oder produzieren heißt doch irgendwoher stellen. Aufnehmen heißt, von irgendwoher nehmen. Es klingt, als sei aufnehmen weniger aktiv, als sei es irgendwie eine passive, also passionelle Einstellung, als gehöre es, um mit Jaspers zu sprechen, zur Passion der Nacht und nicht zur Aktion des Tages. Und doch ist es synonym mit erzeugen.
Aber jetzt stelle ich Ihnen die Frage, was wird denn da aufgenommen? Sie wissen, kurz und gut, es werden Moleküle von Silberverbindungen eingestellt, um Photonen aufzunehmen. Das widerspricht dem gesunden Menschenverstand, aber, wie Sie wissen, man weiß nicht wer Recht hat, aber der gesunde Menschenverstand hat nie recht. Also lassen wir ihn mal beiseite. Was tatsächlich bei Fotografie geschieht, ich stelle etwas ein, nämlich Punktelemente, wenn es um chemische Fotografie geht, grobe Punktelemente, Moleküle. Und ich stelle sie so ein, damit Photonen aufgenommen werden. Der Einwand der meisten hier befindlichen Fotografen wird ja sein, ich nehme gar nicht Photonen auf, sondern ich nehme nur jene Photonen auf, die von irgendwelchen Objekten reflektiert wurden. Da gibt es die Sonne, die Sonne schickt Photonen, die stoßen gegen Objekte, und ich stelle mich so ein, damit diese reflektierten Photonen auf meinen Molekülen aufgefangen werden und zwar stelle ich die Moleküle so ein, damit sie ein Bild von den Objekten dort draußen geben. Fotografien sind Abbilder von Objekten würde ein naiver Fotograf auf meine Argumente antworten. Diese Antwort ist, wie Sie selbst wissen, selbstverständlich nicht haltbar. Denn ich brauche gar keine Objekte.
49:33 Ich kann, wie Sie wissen, ganz ohne Objekte fotografieren. Ich stelle z.B. eine Röhre, also ein elektromagnetisches Feld so ein, damit die Photonen ein Objekt, das gar nicht draußen ist, bilden. Ich spreche von synthetischen Bildern. Das ist Fotografie genauso, wie die chemische Fotografie. Wir haben den ontologischen Widerwillen dagegen und sagen, eine Fotografie eines Flugzeugs und ein synthetisches Bild eines Flugzeugs ist doch nicht dasselbe, obwohl der Vorgang der gleiche ist. Es werden Photonen aufgenommen, weil man sich auf diese Photonen eingestellt hat. Aber der Unterschied ist, dass eine chemische Fotografie etwas abbildet, während ein synthetisches Bild etwas vorbildet. Die Fotografie ist eine Repräsentation, das synthetische Bild ist ein Modell. 50:33
Das ist diese alte Ontologie, die sich immer uns aufzwängt und wir brauchen eine große geistige Disziplin, und uns von dieser Subjekt-Objekt-Mentalität zu befreien. 50:45 Wir sind verleitet, diesen Unterschied zwischen repräsentativ und modellhaft immer zu treffen, weil wir trotz besseren Wissens an eine objektive Welt glauben. Wenn wir uns aber diese beiden Bilder näher ansehen, dann erkennen wir, das ontologisch zwischen ihnen kein Unterschied ist. Es sind beides Bilder. Und was diese Bilder bedeuten, ob ein tatsächlich vor mir stehendes Objekt oder ob ein mögliches Objekt, das ist eine sekundäre Interpretation. Das konkrete, die konkrete Wirklichkeit ist das Bild. Was mir gegeben ist als Raffung von Punkt-Elementen, ist das Bild. Das Bild ist ein Knoten in virtuellen Streuungen und aus diesem Knoten projiziere ich erst, ob draußen ein Flugzeug ist oder ob draußen ein Flugzeug sein soll.
51:53 Das zum aufnehmen, ich bin noch weiter. Und dann ausstellen. Ich weiß, Sie werden sagen, ausstellen, das ist ein schmutziges Wort, es ist eine Verdeutschung des Wortes prostituieren. Aber lassen Sie mal diesen verhurten Aspekt, diesen politischen Aspekt des Ausstellens aus. Und konzentrieren Sie sich auf die Bewegung, die dahinter steht. Sie haben folgende Bewegung, zuerst stelle ich mich ein und etwas mit mir, dann nehme ich auf und dann stelle ich es aus. Und das ist die Geste des Menschen als Projektor. 52:33 Wenn ich bei dem Fotografieren bleibe, dann will ich es so sagen: Die Fotografie, das konkrete Bild ist Knoten an dem wir, was wir ehemals Wirklichkeit genannt haben, anhaften können, und die Fotografie entsteht aus verschiedenen ineinandergreifenden Möglichkeitsfeldern, z.B. aus einem Apparat, der nichts anderes ist, als mögliche Bilder und der sich nur im Bildermachen verwirklicht, oder z.B. aus Photonen, die nur Möglichkeiten sind, die sich erst im Bild verwirklichen, und aus einem Fotografen, der wie gesagt, in sich ja keinen Kern hat, sondern der sich nur in seinen Bildern verwirklicht. 53:29 Wenn ich diesen Blick habe, wenn ich diesen Blick auf die fotografische Geste habe, das Bild im Zentrum der Lage, umgeben von einem Schwarm von Möglichkeiten, die aus verschiedenen Relationsfeldern ankommen, z.B. aus dem elektromagnetischen oder aus dem technischen oder aus dem anthropomorphen, wenn Sie dieses Bild haben, dann werden sie im Fotografieren die Geste des Projektions-Menschen kennen. 54:07
Aber ich würde, bevor ich das abschließe, und das ist alles, was ich sage, außerordentlich fraglich, und es ist außerdem sehr schwer nachzuverfolgen, denn es verlangt nicht nur ein Überholen vieler eingefleischter, seit Jahrhunderten eingefleischter Vorurteile, sondern es verlangt auch eine große Einbildungskraft, wobei ich Einbildungskraft definiere als die Fähigkeit, Zahlen oder andere klare und deutliche Begriffe ins Bild zu setzen. Ich mache einen klaren Unterschied zwischen Imagination und Einbildung. Imagination ist die Fähigkeit, von der Welt in die Subjektivität zurückzutreten und Einbildung ist die Fähigkeit, aus größter Abstraktion ins Bild zu setzen. Also die umgekehrte Bewegung, eine konkretisierende Bewegung, eine projizierende Bewegung. Also, was ich eben sagte, verlangt von Ihnen nicht nur eine epoché, eine Ausklammerung vieler Vorurteile - und das ist sehr schwierig, ich bin selbst sehr schwer fähig dazu, immer wieder verfall ich in die alten Kategorien -, und zweitens verlangt es eine neue Einbildungskraft, für die wir zwar jetzt schon Apparate haben, nämlich z.B. Plotters, aber, die wir in uns noch nicht gut ausgebildet haben. 55:27
Wenn Sie das aufgebracht haben, dann würde ich meinen Vortrag mit folgenden Gedanken schließen. Die Bewegung des Fotografen ist ja nicht Einstellung auf einen Punkt, Aufnehmen von einem Punkt aus und Ausstellen von einem Punkt aus, sondern es ist ein ständiges Springen. Die Bewegung des Fotografen ist die Phänomenologisierung des Aufgebens aller Ideologien, aller subjektiven Ideologien. Es gibt keinen Standpunkt mehr, der besser wäre als jeder andere. Es gibt keine Weltanschauung, die irgendeiner anderen vorzuziehen wäre. Alle Standpunkte sind gleichwertig. Aber das genügt nicht, sondern ich verwirkliche mich, ich komme der Wahrheit, der Schönheit und der Güte desto näher, je mehr ich Standpunkte wechsele. 56:22 Die Bewegung des Fotografen ist eine Phänomenologisierung der neuen Überzeugung, dass Wissen nicht durch Fortschreitendes Denkens entsteht, sondern durch ein ständiges immer sich wiederholendes Umzingeln von Phänomenen in möglichst vielen Standpunkten. Die fotografische Praxis zeigt, dass sich die Wirklichkeit nur jenem enthüllt, der von verschiedenen Standpunkten aus, von so zahlreich wie möglichen Standpunkten aus, sich auf so viele wie mögliche Standpunkte einstellt, von dort aus so viel wie möglich aufnimmt, um von dort aus so viel wie möglich auszustellen. 57:09
57:11 Ich schließe diesen allerdings sehr wenig befriedigenden Vortrag, denn er wirft ja weit mehr Zweifel auf, als er Fragen beantwortet. Ich schließe diesen Vortrag mit folgendem Gedanken: Die Fotografie ist nicht die einzige Geste, natürlich, in der sich diese neue Einstellung äußert. Ich habe sie hier gewählt, weil Professor Dimke ein Fotograf ist. Ich hätte andere Einstellungen, z.B. heute Abend werden wir über das Filmen sprechen, worin sich diese neue Einstellung anders äußert. Ich hätte das Erzeugen von Szenarien in der Politik erwähnen können und so weiter. Ich werde also so schließen: In der Fotografie kommt eine Existenzform zum Ausdruck, die wir noch nicht richtig verarbeitet haben. Wir sind, wir werden es nicht mehr erleben, bis diese Einstellung ihren Platon oder ihren Jeremias gefunden haben wird. Und das ist das Aufregende an unserer gegenwärtigen Lage, dass wir zwar dabei sind, um zuzusehen, wie vieles alte zusammen stürzt, aber dass das weniger interessant ist, als wenn wir uns darauf konzentrieren, das Abenteuer des Neuen zu erahnen zu versuchen. 58:47

Auf Einladung des damaligen Vertretungsprofessors HP Dimke im FB Freie Kunst / Fotografie an der HBK Braunschweig hielt Vilém Flusser einen Vortrag, der im Studio der Filmklasse aufgezeichnet wurde ...
Prof. Michael Brynntrup, der jetzige Leiter der Filmklasse, erhielt die nachfolgende mail von Peter Dargel:
„Die Kamera damals hat als Student Michael Sutor gemacht, heute Professor an der Hochschule Hannover. Technik: U-matic, 20 Minuten-Kassetten! Ich erinnere mich gut. Die Kamera stand hinten im Studio, während Flusser vor der Leinwand hin und her wieselte. Ich nahm den Ton vorn auf, so gut es ging. Später habe ich den Film dann editiert...“
Brynntrup: insofern scheint mir die Nennung folgender Namen in diesem Zusammenhang sinnvoll: Filmklasse der HBK Braunschweig, Prof. Gerhard Büttenbender, Michael Sutor (Kamera), Peter Dargel (Ton, Schnitt)


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Der Braunschweiger Loewe ... Flusser, Vilém / Scrollheim-Vorlaeufer: Kuenstlich 1/89 ... Archiv

Waeren die Begriffe „braun“ und „Loewe“ in Braunschweig nicht so geschichtlich belastet, dann koennte man sagen, es gaebe einen braun schweigenden Loewen in drei Auflagen, und dass die eine davon so beleuchtet ist, damit das Braun als ein Gruen erscheinen moege. Das waere dann eine schoene Geschichte:
Der herrliche romanische Loewe in seiner noch ungebrochenen barbarischen Kraft ist vom roemischen Geist gezaehmt worden, und statt zu bruellen strahlt er jetzt schweigend ein Gruen aus, das dank dem Zahn der Zeit (Oxydation) aus dem Braun emporgetaucht ist.
Diese schoene Geschichte koennte dann als verkuerzte Geschichte Braunschweigs (und Deutschlands ueberhaupt) gelesen werden. Das Wort „Braunschweig“ koennte dann nicht nur vom banalen „Brunswik“, sondern auch von einem die Barbarei dank roemischem Geist bezaehmenden Heinrich abgeleitet werden. Und „deutsch“ wuerde dann eine Methode bedeuten, dank welcher sich das barbarische Bruellen in die lateinische Formenstrenge ergiesst, wie Bronze in begrenzende Regeln, um in Schoenheit zu strahlen. Leider ist diese schoene Geschichte (die doch eigentlich moeglich war) nicht tatsaechlich eingetreten. Haette das okzidentale Geschichtsbewusstsein ein Herz, dann waere der Westen von einem Traenenozean ueberflutet, dessen Traenen diese verlorene Gelegenheit beweinen. Denn tatsaechlich steht der braun schweigende Loewe zwischen Bergen-Belsen und Helmstedt, und er verschweigt sein Braun, verdeckt es mit gruen, um uns die wahre Geschichte vergessen zu lassen. Es gibt Leute, welche behaupten Kunst sei besser als Wahrheit. Wenn solche Leute vor dem braun schweigenden Loewen stehn, dann sehn sie das herrliche gruene Strahlen. Sie lassen sich (um es mit Platon zu sagen) von der Erscheinung bestricken. Oder (um es mit Schiller zu sagen) in eine bessere Welt entruecken. Andere Leute jedoch sind der Meinung, Kunst fuehre zur Wahrheit. Wenn solche Leute vor dem braun schweigenden Loewen stehn, dann wird er fuer sie zu Wahrzeichen und Mahnung. In beiden Faellen ist der Braunschweiger Loewe ein Denkmal, eins, der zum Denken anregendsten im Westen.


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Begegnungen Flusser, Vilém / Rainer Guldin, Gustavo Bernardo aus: Vilém Flusser, ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie

Begegnungen aus: Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie, S. 297-303
Autoren: Rainer Guldin, Gustavo Bernardo / Bielefeld, 2017
www.transcript-verlag.de / 978-3-8376-4064-9

»Lieber Flusser, wie auch in unseren Unterhaltungen führen Sie [...]so schweres Geschütz ins Gefecht, dass ich gleich die Waffen strecken möchte.
Prof. Flusser auf ständiger Attacke, Frau Flusser mit mehr Einsicht, als sie zur Sprache bringt, und ich.« S. Freier, Weizmann-Institut der Wissenschaften (Briefvom 8. Juni 1980) Wie schon in der Brasilien-Zeit und den 1970er Jahren spielen intellektuelle und persönliche Freundschaften, die ihren Niederschlag in einem dichten Briefaustausch finden, auch in den 1980er Jahren eine zentrale Rolle. Neben Andreas Müller-Pohle und Felix Philipp Ingold müssen noch Hans-Peter Dimke, Gottfried Jäger, Harry Pross, Irmgard Zepf, Florian Rötzer sowie Bernd Wingert, Rainer Goetz und Dieter Mahlow erwähnt werden. Diese Freundschaften liefern einen Einblick in die kulturelle Szene Deutschlands der 1980er Jahre, besonders im Bereich der Medien und der Kunst. Flusser nützt die neuen deutschen Beziehungen nicht nur zum intensiven mündlichen und schriftlichen Gedankenaustausch, sondern auch, um neue Publikationskanäle für seine immer zahlreicheren Texte zu finden und die Möglichkeit zu haben, seine Ideen in Vorträgen auszutesten. Wie schon in Frankreich arbeitet er gezielt und systematisch an seinem öffentlichen Erscheinungsbild.

Hans-Peter Dimke
Am 7. September 1981 wendet sich Hans-Peter Dimke, der wie Müller-Pohle und Rudolf Lichtsteiner unter den Zuhörern am Fotosymposium im Schloss Mickeln bei Düsseldorf ist, mit einem ersten längeren Brief an Flusser. Dimke ist Autor, Fotograf und an der Hochschule für bildende Künste Hamburg tätig. Er hat mit 32 Jahren ein Studium der visuellen Kommunikation und Kunst angefangen und daneben seine professionelle Tätigkeit als Fotograf weitergeführt. Er sei von Flussers kritischer Vision der verlogenen Technobilder beeindruckt und habe sich deshalb Flussers französische Adresse notiert.
Vielleicht entwickle sich ein Dialog oder man werde sich mal wieder an einem Symposium treffen. Eine Postkarte aus einer Amerikareise folgt. In einem weiteren undatierten Schreiben bittet er Flusser um einen Artikel für eine geplante Publikation zur sozialen Verantwortlichkeit in der fotografischen Praxis unter dem Titel 1984 ist anders. Flusser reagiert am 16. Juli 1982 mit ein paar Zeilen und legt den Essay »Berufsfotograf« bei. Am 16. September, ungeduldig, wie es so seine Art ist, verlangt Flusser eine Bestätigung, dass der Artikel angekommen ist. Am 23. folgt ein Telefongespräch. Er hat dies gewissenhaft archivarisch auf den Durchschlag des Briefes notiert.
Flusser sucht das Gespräch nicht nur in Briefform, obwohl dies wohl seine wichtigste Kommunikationsform ist. Er telefoniert häufig, um Abläufe zu bestätigen oder zu beschleunigen. Geht man die Terminkalender durch, so findet man besonders in den 1980er Jahren hunderte von Eintragungen bezüglich Telefonaten, an gewissen Tagen steigt die Anzahl auf zehn und mehr Gespräche. In dem am 29. Oktober 1990 in Robion von Christian M. Doermer gedrehten Video Nachlese gibt es gegen Ende eine signifikante Szene. Flusser ist mitten in einer seiner langen verwickelten Ausführungen, als plötzlich das Telefon klingelt. Er unterbricht prompt und verschwindet im Nebenzimmer.
Dimke schickt einen eigenen Text, der zugleich eine Reihe seiner Fotografien enthält. »Sie sehen«, schreibt er im Begleitbrief, »ich versuche die Theorie mit der Praxis zu verknüpfen.« Nach diesem eher langsamen und zögerlichen Anfang entwickelt sich bald eine intensive, spannende theoretische Auseinandersetzung. Flusser schreibt Dimke am 16. September 1987 er sei sein »großer Anreger«. Im März 1985 schreibt er auf Anfrage Dimkes ein Gutachten für eine offene Lehrstelle an der Fachhochschule Bielefeld.
Trotz unvermeidbaren Wiederholungen ist jeder Dialog, den Flusser im Laufe seines Lebens gepflegt hat, durch ganz bestimmte thematische und emotionelle Schwerpunkte und eine einzigartige Entwicklung charakterisiert. Es ist dabei oft nicht auszumachen, wer wen antreibt und wer von wem profitiert. Dies trifft auch im Falle Dimkes zu. Intensive und ruhige Phasen lösen einander ab. Flusser wacht stets über den Dialog und greift ein, sobald er ins Stocken gerät oder zu versiegen droht. »[...] aus mir nicht ganz verstaendlichen Gruenden ist unsere Korrespondenz leider ins Stocken gekommen. [...] Schreiben Sie mir, wenn Sie Lust dazu haben, was Sie machen, gemacht haben, und Vorhaben zu machen« (Brief vom 2. September 1987). In der ersten Hälfte von 1988, als Dimke aus Zeitmangel nur noch knappe sporadische Lebenszeichen von sich gibt, verfasst Flusser drei längere intensive Briefe, um das unterbrochene Gespräch wieder zu beleben und schlägt ein Treffen in Frankfurt a.M. vor. Flusser schickt Dimke regelmäßig Texte, so zum Beispiel den Essay »Von der Schönheit« (Brief vom 22. September 1987), erwartet dann aber auch eine schriftliche Reaktion und fordert diese nach einer gewissen Zeit auch ein (Brief vom 7. Dezember 1987). Neben Reflexionen zur philosophischen und sozialen Bedeutung der Fotografie diskutieren Dimke und Flusser über das Verhältnis von Bild und Text, über Traum und Wirklichkeit, Intermedialität, künstliche Intelligenz, die Struktur des Gehirns, Chaostheorie und Fraktale sowie Logik und synthetische Bilder. »Schreiben Sie mir, wann immer Sie koennen. Unser Kontakt muss aufrechterhalten und belebt werden«, hält Flusser am 2. Januar 1984 fest und fügt selbstironisch hinzu: »Lassen Sie sich nicht allzu sehr vom symbolischen Charakter der neuen Jahreszahl beeindrucken: es ist sicher, dass Orwell zugleich ganz richtig und ganz falsch vorausgesehen hat, (und dies gilt fuer ueberhaupt alle Prophezeiungen und Futurologien, auch die meinen).« Um die Freundschaft zu festigen und zu vertiefen, lädt Flusser Dimke nach Südfrankreich ein. Als dieser dem Wunsch nicht nachkommen kann, schlägt er vor, dass man sich in Göttingen bei Andreas Müller-Pohle trifft, »denn wir haben einander viel zu sagen« (Brief vom 10. Oktober 1982). Tatsächlich werden Maren und Hans-Peter Dimke Edith und Vilem erst im Herbst 1989 in Robion besuchen. Im Oktober 1983 lädt Dimke Flusser seinerseits zu einer Podiumsdiskussion an die Hochschule für bildende Künste Hamburg ein, die für den 4. November geplant ist und an der auch Gottfried Jäger teilnimmt. Zentrales Thema ist Flussers kürzlich erschienenes Buch Für eine Philosophie der Fotografie.
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion findet ein Interview mit Martin Tschechne statt, das am 7. November 1983 im NDR ausgestrahlt wird. Flusser geht dort auf seinen Apparatbegriff und die Bedeutung Marshall McLuhans ein. Apparate tendieren dazu, automatisch zu funktionieren. »Der Fotoapparat wird immer automatischer und funktioniert immer besser, ganz genau wie ein Verwaltungsapparat. Je automatischer der Apparat, desto kleiner die kreative Fähigkeit des Menschen.« Man kann sich dagegen wehren, indem man Apparate wählt, die weniger automatisch sind. »Aber eine bessere Strategie ist, mit automatischen Apparaten versuchen, Sachen zu machen, die zwar dieser Apparat programmiert ist, zu tun, aber es nur in Ausnahmefällen tut, man kann sozusagen mit dem Defekt des Programms arbeiten. [...] Was mich betrifft, so hat Marshall McLuhan mich befruchtet, indem er mir die Funktion der Apparate gezeigt hat, aber zum Unterschied von ihm bin ich gegen die Apparate engagiert. Apparate sind eigenständige, unmenschlich dumme, aber übermenschlich mächtige Wesen.
In der Folge lädt Dimke Flusser noch an eine Tagung über Neue Medien in München ein (Frühjahr 1986) und an ein Kolloquium in Hamburg über ästhetische Erfahrung und die Moral der Kunst, das er zusammen mit Jörg Zimmermann organsiert und das vom 20. bis 22. Mai 1986 stattfindet. Ein weiteres Treffen folgt an der Hochschule der Bildenden Künste Braunschweig. Am Nachmittag des 22. Mai 1989 hält Flusser ein Referat zu »Kunst als Lebenseinstellung« und diskutiert mit den Studierenden. Am Abend nimmt er an einem Filmseminar teil. Dimke erwähnt in einem am Tag danach verfassten Brief den langen »Applaus der Begeisterung und die Zuneigung der Studenten und anderen Zuhörer« (Brief vom 23. Mai 1989). Im letzten im Archiv erhaltenen Brief, den Flusser am 4. Juni 1989 verfasst, kommt er auf diese Erfahrung zurück. »Das Beisammensein mit Ihnen und mit den Lehrern und Schuelern in Braunschweig war fuer uns beide ein schoenes Erlebnis.«
Dimke vermittelt Flusser den Zugang zur Zeitschrift Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Vom Dezember 1984/Januar 1985 bis zum März 1991 publiziert er insgesamt 15 Beiträge, drei erscheinen posthum. Darin angesprochene Themen sind Exil und Kreativität, das Judentum sowie das Verhältnis von Leben und Kunst. Darüber hinaus erscheinen zwei Auszüge aus Die Schrift. In diesem Zusammenhang lernt Flusser auch den Redaktor Hans-Joachim Lenger kennen, der im November 1990 mit ihm für die Zeitschrift ein Interview führt. Anlass ist das Symposium »Interface« zum Thema elektronische Medien und künstlerische Kreativität. Im Interview erklärt Flusser sein Verhältnis zu seinen verschiedenen Schreibsprachen und die Bedeutung der Übersetzung als einer Sprungtechnik. »Vielleicht ist alles, was ich versuche eine Theorie der Übersetzung.« Am 2. Mai 1991 schreibt ihm Flusser begeistert. »Die Lektüre des Gesprächs mit Ihnen war ein Erlebnis. Man spürt heraus, daß dabei unsere Herzen in Einklang schlugen (das meint Konkordanz und Akkord, nicht wahr?) Meiner Meinung nach muß dieser Text weitere Kreise ziehen.« Drei spezifische Momente der jahrelangen Freundschaft mit Dimke sind von besonderer Bedeutung, werfen sie doch ein Licht auf wesentliche Aspekte von Flussers Biographie. Flusser lädt Dimke im Juni 1984 dazu ein, ihn in Robion zu besuchen und in diesem Zusammenhang auch am Treffen »Le vivant et l’artificiel« in Avignon teilzunehmen, wo er am 11. Juli einen Vortrag hält. Im Vorfeld kommt es zu einer Auseinandersetzung, in die auch Andreas Müller-Pohle verwickelt ist. Flusser, der sich auch hier gern widerspricht, findet in einem ersten Moment, dass eine Wasserscheide die beiden Fotografen trenne (Brief vom 27. Juni 1984). Zwei Jahre später jedoch verweist er in Hinblick auf Dimkes Kritik von Müller-Pohles Ansatz auf deren sich grundsätzlich ergänzende Einstellung (Brief vom 5. März 1986). Dimke sagt seine Teilnahme ab und verweist dabei kritisch auf den fragwürdigen Charakter der Selbstinszenierung bei solchen Gelegenheiten. In Arles würden sich Leute treffen, »um sich Fotos zu zeigen, die sie selbst mit einem Markenzeichen ausgestattet haben« (Brief vom 1. Juli 1984). Flusser reagiert heftig (Brief vom 7. Juli 1984), trifft diese Bemerkung ihn doch auch in Hinblick auf seinen eigenen existentiellen Grundkonflikt, der bis zu seinem Tod akut bleibt, und sich in den letzten Jahren, besonders nach seinem Durchbruch im deutschen Sprach- raum, noch verstärkt: den Widerspruch zwischen bewusst gewähltem Rückzug und gesellschaftlichem Erfolg. »Dass Euch oeffentliche Veranstaltungen wie Arles und Avignon ankotzen, ist selbstverstaendlich [...]: wir haben Robion als Wohnung gewaehlt, um derartigen Dingen aus dem Weg zu gehen. Ich muss Euch nicht erst erzaehlen, dass alle unsere Entscheidungen in den letzten beiden Jahrzehnten darauf abgezielt haben dem Apparatbetrieb so weit wie nur moeglich auszuweichen.« Dass dies nicht vollumfänglich zutrifft, beweisen Flussers viele Versuche, in Frankreich und Deutschland zu publizieren und seine Enttäuschung darüber, dass dies erst gegen Ende der 1980er Jahre stattfindet. Flusser hat sich von den Verlockungen des Erfolgs verführen lassen. So schreibt er weiter unten: »Aber es spielen noch andere Faktoren mit, die mit Eitelkeit und Exhibitionismus zu tun haben.«
Das zweite Moment zeigt einen ganz anderen, verletzlichen Flusser. In einem längeren Brief vom 19. Januar 1985, der einige Fotos enthält, beschreibt Dimke einen gemeinsamen Besuch im Konzentrationslager von Bergen-Belsen, an dem auch seine Lebensgefährtin Maren und Edith teilnehmen. »Wir waren zusammen in Bergen-Belsen und sie weinten in Erinnerung an Ihre Großeltern, die dort umkamen. Sie wandten sich ab und gingen, und ich ein paar Schritte hinter Ihnen, konnte Sie nicht einholen (ja natürlich hätte ich), um Sie in den Arm zu nehmen, Sie zu trösten. Ich war, im Bewußtsein der geschichtlichen Untaten, wie gebannt, - konnte nicht die Trauer mit Ihnen teilen. Und nicht, weil ich >unfähig bin zu trauern<, sondern weil ich mich nicht entscheiden konnte, so unmittelbar an Ihrer Trauer teilzunehmen.« Dimke macht ein paar Fotos im Bewusstsein, dass auch damit das Unvorstellbare und Unbegreifliche nicht zu bannen ist. »Es ist ein Paradoxon geworden - oder ist es einfach nur pietätlos? Außer Maren hat es nie jemand [sic!] gesehen, und ich möchte Sie bitten zu entscheiden, ob es jemals irgendwer sehen soll.« In einem zwei Tage später verfassten Brief geht Flusser mit keinem Wort auf die von Dimke geschilderte Begebenheit ein. Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen.
Abschließend möchte ich noch auf ein drittes, diesmal eher theoretisches Moment eingehen. Am 16. April 1984 schickt Dimke Flusser einen mehrseitigen handgeschriebenen Brief, in dem er auf ein zentrales Moment von Flussers Medientheorie eingeht, die weitegehend aus seiner Übersetzungsarbeit hervorgeht. Im Mittelpunkt steht dabei die Metapher des Sprungs. »Wenn wir nicht nur an der fotografischen Oberfläche kratzen wollen, müssen wir der Fotografie eine Chance im interdisziplinären Kontext geben. Das sollen keine >Gesamtkunstwerke< sein (im Gegenteil) eher verstehe ich darunter >MediensprüngeBewusstseinswerdung< vorstellen).« Flusser reagiert am 4. Juni 1984 ausführlich auf Dimkes theoretischen Vorschlag und liefert dabei zugleich eine der eindringlichsten Beschreibungen seines eigenen sprunghaft metaphorischen auf vielfachen Übersetzungsbewegungen beruhenden Denkens.
>Mediumspruenge<: Es ist das Problem der Uebersetzung. Auf griechisch heisst >Uebersetzung< = >Metaphern< Zum Beispiel: Wenn ich das englische Wort >power< ins deutsche >Macht< uebersetze, dann verwende ich >power< metaphorisch. Oder: Wenn ich den Begriff >Analyse< aus dem Medium der Chemie ins Medium der Psychologie uebersetze, dann gebrauche ich ihn metaphorisch. Metaphern sind zugleich fruchtbare und gefaehrliche Strategien: sie bereichern das Medium, in welches ich springe, und sie verfaelschen das Medium, aus welchem ich springe. >Power< heißt nicht >Macht<, sondern >Koennen<, >Analyse< in der Chemie ist nicht >Entbergung<, sondern >Zersetzung<. Wenn ich mit malerischen Kriterien fotografiere, bereichere ich das Repertoire der Fotografie, und bin der Malerei >untreu<. Daher der bekannte Grundsatz der Uebersetzung: >so treu wie moeglich, und so frei wie noetig.< Eine exakte Formulierung der Freiheit. Aber es gibt dabei noch etwas anderes. Um aus einem Medium in ein anderes springen zu koennen, (aus einem >Universum< in ein anderes), muß ich beide vergleichen, (zum Beispiel ein englisch-deutsches Woerterbuch haben). Dieses Vergleichen kann ein >Meta-Medium< genannt werden. (Das, was Sie >interdisziplinaer< nennen.) Dieses Metamedium ist aber selbst ein Medium, zum Beispiel: physikalische Chemie. Und dann muss man, wenn man konsequent sein will, aus diesem Metamedium in ein anderes springen wollen. Zum Beispiel aus dem Metamedium >Foto-Malerei< ins Medium >Musik<. Und um das zu tun, muss man ein Metametamedium haben. Eine Stufenleiter aus Metaphern. Ein kolossal berauschendes Unternehmen, etwas so wie Seiltanzen oder Feuerwerke. Dafuer ein Beispiel: >Suende< aus dem Medium Christentum in die freudische Analyse mit >Komplex< uebersetzen, daraus in den Marxismus mit >Verfremdung< übersetzen, und daraus ins Christentum mit >Glaube< rueckuebersetzen, daher >Suende< = >Glaube<. Sie sehn [sic!]: die Fruchtbarkeit und Gefaehrlichkeit der Metapher. Es ist nicht schwer, das Gesagte auf das Gebiet der technischen Bilder zu uebersetzen. Das ueberlasse ich Ihnen. Denn das muss gemacht sein.«
In der Folge deutet Flusser diese Denkpraxis in Hinblick auf die Politik und die Arbeit des Fotografen. Es geht dabei nicht um ein Zusammenkleben von unterschiedlichen Realitätsbereichen, zum Beispiel von Medien oder Sprachen, sondern um den Riss, das heißt, ums Übersetzen. Der Nazismus verbindet in seiner Ideologie die arische Rasse mit sozialistisch anmutenden Maßnahmen und besiedelt Russland, dadurch werden Volkswirtschaft, Kulturkritik und Biologie zusammengeklebt. Das führt nach Flusser zu Kitsch. Kitsch ist allen Medien untreu und bereichert keines. Solange der Fotograf schizophren ist, zerrissen zwischen den Zwängen des Apparates und seinem eigenen Anspruch, »kann er aus einer der Seelen in die andere uebersetzen. Er >zweifelt<, (oder dreifelt oder vierfelt) [...]. Aber sobald er die Seelen aneinanderklebt, (sich mit dem Apparat identifiziert), ist er zweifellos verzweifelt, und Kitsch ist die Folge. Daher bin ich prinzipiell gegen alle Collage.« Der Brief endet mit einer kulinarischen Metapher. »Dieser Brief ist als Modell fuer eine Serie von Medienspruengen gemeint, laeuft aber Gefahr, Collage zu werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, sein Staccato-Charakter. Beispiel: Rehruecken mit Preiselbeern, (Sprung ueber Medien) macht selig, Hamburger, (Mediumcollage), kann Durchfall erzeugen. Lesen Sie meinen Brief als Rehruecken, nicht als Hamburger [...].


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Vilém Flusser zu seiner Schrift: ... Flusser, Vilém / für eine Philosophie der Fotografie

Im Oktober 1983 organisierte ich eine Podiumsdiskussion zum Thema „Für eine Philosophie der Fotografie“ in der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Professor Vilem Flusser ist der Autor des Buches und stellte am 4.11.83 folgendes Referat voran:
Ohne die folgende Diskussion in von mir beabsichtigte Bahnen lenken zu wollen, sondern im Gegenteil, davon unerwartete Anregungen erhoffend, schlage ich Ihnen vor, die meine im Gespräch beinfindlichen Versuch tragenden Grundgedanken hervorzuheben:
(1)            Fotos sind „technische Bilder“, das heißt: Apparate sind an ihrer Erzeugung und zum Teil auch an ihrer Distribution und an ihrem Empfang beteiligt. Daher muß jeder, der sich mit Fotos aktiv und kritisch beschäftigt, das Problem „Apparat“ ins Auge fassen. Es geht jedoch dabei um ein Problem, das weit über das Gebiet der Fotografie hinausgeht. Man kann es für eines der Grundprobleme der gegenwärtigen Kultursituation überhaupt ansehen. Daher führt ein Überdenken der Fotografie spontan zu Überlegungen, welche unsere Kultursituation überhaupt in Frage stellen. Das war das Motiv, das mich zum in Diskussion stehenden Versuch angeregt hat. Also nicht die Fotografie selbst, sondern die Fotografie als Zugang zum Verständnis der gegenwärtigen Lage, steht dabei im Zentrum.
(2)            Zuerst muß man über den Begriff „Apparat“ Klarheit gewinnen. Es stellt sich heraus, daß das leichter gesagt als getan ist. Was hat zum Beispiel ein Fotoapparat mit einem Verwaltungsapparat gemeinsam ? Auf den ersten Blick nichts, und es sieht so aus, als ob wir den gleichen Terminus auf zwei unvergleichbare Dinge anwenden würden. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß der Sprachgebrauch berechtigt ist:  Beide, Foto- und Verwaltungsapparat, tendieren, immer automatischer zu funktionieren. „Automation“ und „Funktion“ erscheinen als zwei Kernaspekte dessen, was mit dem Begriff „Apparat“ gemeint ist.
(3)            Automatisch heißt selbstbewegend. Keinen äußeren Agenten, vor allem keinen menschlichen Agenten erfordernd. Daraus ist zu schließen, daß Apparate mit der Absicht hergestellt werden, die menschliche Handlung aus ihrer Funktion auszuschließen. Sie sollen den Menschen von der Notwendigkeit, spezifische Handlungen, zum Beispiel spezifische Arbeiten zu leisten, emanzipieren. Zum Beispiel werden zahlreiche Gesten des Bildermachens vom automatischen Fotoapparat übernommen. Aber diese in den Apparaten steckende Absicht, den Menschen zu befreien, stößt auf zwei Widersprüche: (a) Automation führt zu Autonomie, und die Apparate beginnen, ihren eigenen Regeln zu gehorchen und drohen, der menschlichen Kontrolle zu entschlüpfen, (b) Die meisten Apparate sind nicht voll automatisch, sondern sie erfordern vorläufig noch menschliche Interventionen. Es stellt sich heraus, daß dabei die Menschen in Funktion der Apparate funktionieren, daß sie zu Funktionären werden. Ein Beispiel für die Autonomie der Apparate bietet das Wettrüsten zwischen West und Ost, ein Beispiel für das Verwandeln der Menschen in Funktionäre bietet das Verschieben der Mehrzahl der tätigen Gesellschaft aus dem sekundären in den tertiären Sektor. Es geht um Grundfragen der Freiheit in der gegenwärtigen Lage. In der Fotografie sind diese Fragen im Kleinen - und deutlich - ersichtlich.
(4)            Die Automation beruht auf einem Zerlegen von Prozessen in klare und deutliche Punktelemente, zum Beispiel auf einem Zerlegen der Gesten in Aktome. Dieses Zerlegen und Wieder-Zusammenfügen von Punktelementen, dieses „Kalkulieren“ und „Komputieren“, dem die Apparate ihr Entstehen verdanken, ist eine für die Gegenwart bezeichnende Denk- und Handlungsmethode. Sie äußert sich zum Beispiel im atomistischen Weltbild der Naturwissenschaften und im Propositionskalkül der formalen Wissenschaften. Man kann sie in der körnigen Struktur der Fotos und in der Stakkatostruktur der fotografischen Geste wiedererkennen. Es geht dabei um eine Analyse der Prozesse (Systemanalyse), die von dem Versuch einer Rücksynthese gefolgt ist. Diese Rücksynthese gelingt nicht, weil eine völlige Integration der Differentiale eine unendliche Zahl von infinitesimalen Elementen erfordern würde. Daher wird man bei näherem Hinsehen der Intervalle ansichtig, die zwischen den Punktelementen, zum Beispiel der Fotografie oder der fotografischen Geste klaffen.
Durch all diese kalkulierten und komputierten Kulturphänomene hindurch ist das Nichts zu ersehen. Die Apparate und ihre Produkte erwecken den Eindruck von Mosaiken ohne konkrete Unterlage (zum Beispiel elektromagnetische Fotos). In diese Stimmung des Absurden, des Wurzel losen, ist die Apparatkultur überhaupt und die Fotokultur im besonderen, gebadet.
(5)            Das in schwirrende Punktelemente zerfallene Universum ist chaotisch, aber es entstehen zufällig darin immer wieder geordnete Formen. Zum Beispiel Spiralnebel oder menschliche Gehirne. Oder im Sprachuniversum entstehen bei Wortpermutation zufällig grammatikalisch und semantisch geordnete Sätze. Derartige unwahrscheinliche Gebilde heißen „Informationen“. Für das kalkulierende und komputierende Denken sind die Informationen das Interessante. Es geht um ein „wahrscheinlichkeitsrechnendes“ Denken. Die Absicht dieses Denkens ist, den Zufall absichtlich herzustellen, ihn aus einem Unfall in einen „Vorfall“, ein Projekt, zu verwandeln. Die Absicht des komputierenden Denkens ist, den Zufall zu programmieren. Apparate sind programmierte Vorrichtungen, sie sollen Unwahrscheinliches, Informationen erzeugen. Sie sollen dem chaotischen Schwirren des Universums absichtlich Form verleihen. Zum Beispiel sollen die Fotoapparate aus dem chaotischen Schwirren der Photonen etwas Unwahrscheinliches, nämlich Bilder, erzeugen. Es ist aber ein Widerspruch in dieser negativ entropischen, informierenden Absicht, der die Apparate ihr Entstehen verdanken. Das Unwahrscheinliche, das die Apparate hersteilen sollen, ist in ihr Programm eingetragen und ist daher, von diesem Programm aus gesehen, wahrscheinlich. Wer das Programm eines Fotoapparates kennt, kann kalkulieren, welche Bilder der Apparat notwendigerweise zufällig einmal wird herstellen müssen. Das heißt: Die Automation widerspricht dem Willen, dem Chaos Information entgegenzustellen, und in der Apparatkultur droht der notwendig werdende Unfall (etwa Atomkrieg).
(6)            Es scheint auf den ersten Blick, als ob sich der Wille, dem Chaos Form zu verleihen (die menschliche „Würde”), vom Handeln ins Programmieren verschoben hätte. Zugegeben: Die Apparate und die an ihnen beschäftigten Funktionäre erzeugen Erwartetes, Redundantes. Aber die Programmierer der Apparate und der Funktionäre sind frei, unerwartete Möglichkeiten in die Wirklichkeit zu setzen. Das Foto zum Beispiel ist eine vor der Erfindung des Fotoapparates unerwartete Verwirklichung von Möglichkeiten, und wir haben sie den Erfindern, nicht den Fotografen, zu verdanken. Bei näherem Hinsehen erweist sich dies als Täuschung. Die Erfindung des Fotoapparates stand, wie wir rückblickend erkennen können, auf dem Programm des Diskurses der Chemie und der Optik, und sie ist im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts immer wahrscheinlicher geworden. Die Programmierer programmieren innerhalb von Meta-Programmen. Auch sie sind Funktionäre. Zwar ist richtig, daß sich innerhalb der Apparatkultur die Entscheidung, die „Macht“, immer mehr von den Besitzern von Apparaten auf die Programmierer von Informationen verschiebt („Informationsgesellschaft und Informationsimperialismus“), aber selbst diese „Macht“ beginnt, ihren automatischen und von menschlicher Absicht autonomen Charakter aufzuzeigen.
Ein eindrucksvolles Beispiel bietet die wirtschaftliche Lage. Und man kann dies auf dem Gebiet der Fotografie deutlich ersehen: Der Fotograf funktioniert in Funktion seines Apparates, dieser in Funktion seines Programmes, dieses in Funktion des Programmes seiner Industrie, diese in Funktion des wirtschaftlichen Apparats, dieser in Funktion eines ideologischen Apparats, und es grenzt an Metaphysik, dahinter menschliche Absichten, das heißt, unprogrammierte Absichten, herausfinden zu wollen. Es sieht so aus, als ob das kalkulierende und komputierende Denken und Handeln den Begriff „Freiheit“ ausgehöhlt hätte und zu einer Art negativem Determinismus, nämlich dem des notwendig werdenden Zufalls, führen sollte.
(7)            Dem widerspricht jedoch die Erfahrung, die wir aus einer phänomenologischen Betrachtung mancher fotografischen Praxis gewinnen. Es gibt Fotografen, welche bewußt und absichtlich gegen das Programm in ihrem Apparat (und in anderen Apparaten) handeln, um diese Programme zu zwingen, in ihnen unvorhergesehene Möglichkeiten ins Bild zu setzen. Auf den ersten Blick ist dies ein unmögliches Unterfangen, eine Selbsttäuschung: Nur, was im Apparatprogramm steht, kann auf genommen werden. Sieht man jedoch näher hin, dann stellt sich heraus, daß diese Fotografen nicht eigentlich gegen das Programm, sondern gegen seine Automatizität spielen. Sie spielen mit dem Zufall. Sie versuchen, das vom Programm aus gesehene Wahrscheinliche unwahrscheinlich und das vom Programm aus gesehene Unwahrscheinliche wahrscheinlich zu machen, das Programm umzustülpen. Sie versuchen, Bilder zu machen, die zwar vom Programm aus möglich sind, aber unwahrscheinlich. Sie zeigen, daß menschliche Freiheit in der Apparatkultur ist, gegen die Programme zu spielen. Nicht also von „oben“ her, vom Programmieren her, sondern von „unten“ her, vom umgestülpten Funktionieren her, den Zufall zu unterlaufen. Das ist ein außerordentlich problematisches Unterfangen, denn die Programme verfügen über Feed-back-Kanäle, welche ihnen erlauben, diese Befreiungsversuche zur Bereicherung ihrer selbst automatisch umzubiegen. Und doch ist es meiner Meinung nach die einzige Methode, dem Apparat-Totalitarismus die Stirn zu bieten. Die Betrachtung der Fotografien bietet eine außergewöhnlich klare Gelegenheit, diesen Befreiungsversuch der menschlichen Würde gegen die sturen automatischen Apparate ins Auge zu fassen.

PS.: Auf die Veranstaltung möchte ich hier nicht eingehen, will aber erwähnen, daß Flussers Thesen den Studenten der Hochschule verschiedene Anstöße gaben. Es bildete sich z.B. eine Literaturgruppe, die sich theoretisch mit Medienforschern, wie M. McLuhan, G. Anders und aktuellen Autoren, befasste. Auch der praktische Umgang mit dem Medium Fotografie wurde grundsätzlich neu überdacht.


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AUFKLÄRUNG DER EINBILDUNG ... Harald Brandt / Gespräche mit Vilém Flusser über die Wahrscheinlichkeit der Realität.

1. Sprecher :  
   Vilém Flusser bezeichnet sich selbst als einen Menschen, den die Gedanken jagen. Wenn er ein Problem gelöst hat, versucht er schnell weiterzugehen, denn er weiß, daß es keine endgültigen Lösungen gibt und daß die alten Fragen in neuer Form immer wieder auftauchen werden. Seine Denkmodelle möchte er am liebsten wieder ausradieren, denn er mißtraut jeder Form systematischen Denkens. Aber er ist fasziniert von Bildern und der Geste des Bildermachens, allerdings nicht im herkömmlichen Sinn – was Vilém Flusser interessiert sind die immateriellen Produkte, die auf dem Bildschirm eines Computers entstehen, als Resultat eines spielerischen Dialogs zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Synthetische Bilder. Aus ihnen liest Flusser die “ körnige Struktur “ des Universums heraus, die Geste eines synthetisierenden, die Welt immer wieder neu erschaffenden Denkens, das den Menschen zum ersten Mal wirklich Herr über sein Schicksal werden läßt.
Seine drei ersten in Deutschland erschienen Bücher, “ Für eine Philosophie der Photographie “, “ Ins Universum der technischen Bilder “ und “ Die Schrift “ beschäftigen sich mit dem Ursprung der sogenannten neuen Bilder, den Flusser in der Photographie ansiedelt: eine Photographie ist ein von Apparaten erzeugtes, aus Punkten und Intervallen bestehendes Bild, das fast unbegrenzt repoduzierbar ist. Im elektromagnetisch erzeugten Bild fällt der stoffliche Träger der Information, wie zum Beispiel Papier, endgültig weg. Das Bild hat sich vom Untergrund gelöst; die Informationen werden jetzt von elektromagnetischen Gedächtnissen gespeichert und können so, ohne Qualitätsverlust, beliebig oft reproduziert werden. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Original und Reproduktion. Diese Loslösung vom stofflichen Untergrund bedeutet nach Flussers Anschauung eine tiefgreifende Kulturrevolution, deren Konsequenzen wir erst erahnen können. Denn mit dem Verschwinden des Papiers scheint auch die Schrift und damit die gesamte westliche Textkultur in ihrer Vorherrschaft bedroht zu sein. Die lineare Geste des Schreibens, des Aneinanderreihens von Buchstaben, hat nach Flussers Meinung erst das historisch - politische Denken hervorgebracht, das für die westlichen Kulturen charakteristisch ist. In seinen Werken versucht er eine neue Form des Denkens darzustellen, die sich nach seiner Anschauung schon in der Photographie manifestiert hat, jetzt aber, in der der Geste des Manipulierens von Punkten und Intervallen auf einem Bildschirm erst richtig deutlich wird.
O- Ton 1
( Vilém Flusser )
Es liegt mir daran, zwei Einbildungskräfte voneinander zu unterscheiden. Das ist vielleicht die Grundlage meiner ganzen Untersuchung. Ich unterscheide die Einbildungskraft, der wir die traditionellen Bilder verdanken, von der Einbildungskraft, welche die neuen Bilder herstellt. Und sie scheinen mir auf einer ganz anderen Bewußtseinsebene zu liegen. Darf ich das kurz sagen. - Ich habe mir ein Modell zurechtgebastelt. Ich bin bereit auf dieses Modell zu verzichten. Aber solange ich ihm folge, erweist es sich als fruchtbar. Das Modell ist, sagen wir, auf Dimensionen aufgebaut. Ich sage mir, wir sind in eine vierdimensionale Welt geworfen, wie alle Lebewesen, eine Welt, die aus Gegenständen besteht, die mich angehen, oder die von mir abweichen. Also, bewegte Volumina. Wir haben Hände, und dank diesen Händen sind wir fähig, Gegenstände aufzuhalten, zu verhüten, daß sie uns angehen, sie festzuhalten, sie zu begreifen, sie zum Stehen zu bringen. Diese menschliche Kapazität, in die vierdimensionale Welt einzugreifen, um daraus Körper herauszureißen, diese typisch menschliche Fähigkeit besteht in Wirklichkeit darin, laut diesem Modell, aus der vierdimensionalen Welt Dreidimensionalität zu abstrahieren. Infolgedessen ist die manipulierende Geste, die Geste des Behandelns, eine abstrahierende Geste. Sie setzt voraus, daß sich der Mensch irgendwie aus der Welt abstrahiert hat, zurückgezogen hat, daß er nicht mehr insistiert, sondern jetzt existiert und daß er nicht mehr in der Welt ist, sondern jetzt ihr Subjekt, ihr unterworfen ist, wodurch die Welt subjektiv wird - und durch diese Spaltung zwischen Subjekt / Existenz einerseits und objektive Welt andererseits, über diese Spaltung hinweg erzeugt der Mensch Gegenstände, zum Beispiel Steinmesser. Der Nachteil einer derartigen Behandlung von Gegenständen ist, daß man während man die Gegenstände behandelt, also aus der Vierdimensionalität in die Dreidimensionalität herauszieht, herstellt im wahren Sinne des Wortes - der Nachteil der Herstellung ist, daß man sich gegen die Dinge stößt, daß sie tückisch, daß ich der Tücke der Materie ausgesetzt bin. Es gibt eine Möglichkeit, der auszuweichen, indem man weiter aus der Welt herausgeht. Aus dem weiteren Abstand, aus der weiteren Abstraktion, stößt man sich nicht mehr gegen die Gegenstände, sie sind weiter entfernt, aber man kann sie überblicken. Dieser Überblick, den man gewinnt, daß man nicht mehr Sachen sieht, sondern Sachverhalte, erlaubt einem eine bessere Orientierung. Die Fähigkeit, diesen weiteren Schritt zurück zu machen heißt Einbildungskraft. Wir besitzen die Fähigkeit in unserer Subjektivität weiter zurückzutreten, uns also in Folge dessen von der Welt weiter zu entfernen, um sie zu überblicken. Und aus diesem Standpunkt heraus können wir uns Bilder machen.
Dieses Bildermachen hat einen kolossalen Nachteil, weil nämlich aus dieser Entfernung heraus die Welt nur noch erscheint; sie ist nicht mehr manifest, unsere Arme sind nicht lang genug über diesen Abgrund hinüberzugreifen - dieser Abgrund der Entfremdung ist nicht mehr mit unseren Händen überbrückbar ... mit unseren Armen überbrückbar. Die Welt ist nur noch phänomenal, sie ist nur noch Erscheinung und das Manifeste hat sich aus ihr verloren. Infolgedessen sind wir jetzt im Zweifel über die Realität, die Objektivität der von uns eingebildeten Welt. Wenn wir diese Einbildungskraft ins Spiel bringen, setzen wir uns in den Zweifel über die Objektivität unserer Einbildungen. Diese Zweifel kann man überwinden, wenn man nämlich das, was man sich einbildet, erstens einmal festhält, in ein Gedächtnis füttert, zum Beispiel auf Höhlenwände in Lascaux, und zweitens anderen zugänglich macht, indem man es kodifiziert, also intersubjektiviert - indem man aus der Subjektivität in die Intersubjektivität ausbricht. So stelle ich mir laut diesem auszuradierenden Modell vor, daß die ersten Bilder entstanden sind.
1. Sprecher :
Vilém Flusser beschreibt in seinem Modell die Entstehung und Entwicklung des menschlichen Bewußtseins vom Standpunkt der Kommunikationstheorie. Der in die vierdimensionale Welt, das heißt, in ein Raum-Zeit-Kontinuum gestellte Mensch manipuliert mit seinen Händen dreidimensionale Gegenstände. Für Flusser ist das die erste abstrahierende Geste, die gewissermaßen die Subjektwerdung des Menschen zur Folge hat.
Aus dem Bedürfnis, Gegenstände der objektiven Welt zu überschauen, erklärt Flusser die Entstehung der Bilder, die es erlaubt, Sachverhalte anstelle von Sachen zu sehen. Dieser Schritt von der Räumlichkeit zur Fläche ist eine weitere Abstraktion.
Allerdings scheint bei diesem Modell die Unterscheidung zwischen Sein und Denken zu fehlen, oder zumindestens außer Acht gelassen - handelt es sich bei der abstrahierenden Geste wirklich um ein physisches Herausgehen aus der Welt, oder nur um die Entwicklung der gedanklichen Fähigkeit zur Abstraktion ? Die Frage nach dem Verhältnis und der gegenseitigen Beeinflußung von materieller Welt und menschlichem Denken ist der Punkt, von dem aus Flussers Gedankengebäude immer wieder problematisiert werden muß.
Der Grundgedanke in seinem Modell ist die Notwendigkeit der Vermittlung, oder wie er sagt, der Mediation zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und der objektiven Welt. Der Mensch entwickelt aus der Entfernung zur Welt, die ihm erlaubt einen Überblick zu gewinnen, Handlungsmodelle, zum Beispiel Bilder. Die Problematik der Bilder liegt nach Flussers Meinung in der Tatsache, daß sie konnotativ verschlüsselt sind, das heißt, daß der Bildbetrachter beim Entschlüsseln ihrer Botschaften mehrere Interpretationsmöglichkeiten hat.
O-Ton 2
( Vilém Flusser )
Bilder sind laut diesem Modell Mediationen zwischen einem entfremdeten Subjekt und einer jetzt nur noch vorgestellten, eingebildeten objektiven Welt - und sollen in dieser Welt als Handlungsmodelle dienen, sie sind ein “reculé pour mieux sauter“.
Es geht um eine kritische, theoretische Distanz, die mir zwar erlaubt, Überblick zu gewinnen und diesen Überblick dann als Modell für Handlungen anzuwenden, die aber den Nachteil hat, in sich den Keim eines ontologischen Zweifels zu bergen. Erschwerend kommt hinzu, daß notwendigerweise die Bilder in konnotativen Kodes verschlüsselt sind - ich glaube , daß ich jetzt nicht darauf eingehen kann, warum sie notwendigerweise konnotativ sind, ich werde es in einem Wort fassen: Bilder sind Flächen, denn sie sind eine weitere Abstraktion. Bilder sind Abstraktionen aus Körpern, sowie Körper Abstraktionen aus der Lebenswelt sind. Ich bin ja um einen weiteren Schritt in die Abstraktion gegangen. Bilder sind zweidimensional, weil sie Oberflächen von den Volumina abziehen. Da sie Flächen sind, so bieten sie ihre Botschaft synchronisch und der Empfänger muß sie diachronisieren, das heißt, sein Blick muß über die Oberfläche des Bildes kreisen.
Dieses Kreisen folgt zwar Wegen, die von dem Bildermacher vorgeschlagen sind, er kann, sagen wir, dem Pinselstrich des Malers folgen, aber er folgt auch der eigenen Intentionalität des Beobachters. Es kommen beim Entziffern von Bildern zwei Intentionalitäten ins Spiel ; die Intentionalität des Bilderherstellers und die Intentionalität des Bilderempfängers. Diese doppelte Intentionalität macht die Botschaft des Bildes konnotativ, das heißt, jeder Empfänger kann die Botschaft in bestimmten Grenzen auf seine eigene Weise entziffern, er kann interpretieren. Bilder sind interpretierbare Botschaften. Wenn sie aber interprtierbar sind, subjektiv interpretierbar, sind, sind sie keine verläßlichen Modelle.
Die eine Schwierigkeit ist der konnotative Charakter der Bilder, die zweite Schwierigkeit ist die innere Dialektik einer jeden Mediation. Mediationen sind Instrumente, welche zwischen zwei polen vermitteln sollen. Die innere Dialektik einer Mediation besteht darin, daß indem sie vermittelt, sie auch den Weg versperrt. Die deutsche Sprache bringt das sehr gut zum Ausdruck - indem eine Mediation etwas vorstellt, stellt sie sich davor. Infolgedessen kann es bei Bildern zu einer epistemologischen und ontologischen Verwechslung kommen; anstatt daß ich die Bilder als Modelle verwende, um in der von ihnen vorgestellten Welt zu handeln, kann ich umgekehrt meine Erfahrungen in der vorgestellten Welt zum Bearbeiten der Bilder verwenden. Ich kann infolgedessen die Welt in Funktion der Bilder anstatt die Bilder in Funktion der Welt benützen.
Diese ontologische Verwirrung, die Idolatrie heißt, führt zu einem bilderabhängigen Handeln - die Welt bekommt für einen solchen Wahnsinnigen die Struktur des Bildes, sie wird nicht mehr Lebenswelt, sondern sie wird Szene, Bildszene, und der Mensch handelt, als ob es um ein Bild ginge - das heißt magische Handlung. Also führen Bilder dank ihrer inneren Dialektik notwendigerweise zum magischen Behandeln.
1. Sprecher :
Dieser Begriff des magischen Handelns, zu dem die innere Dialektik der Bilder anleitet, wird bei der Beschreibung der neuen Bilder, die Flusser von den traditionellen Bildflächen unterscheidet, noch einmal sehr wichtig. Flussers Evolutionsmodell ist auf Krisen, fast könnte man sagen Bewußtseinskrisen aufgebaut - der Mensch, der sich der Tücke der Materie, das heißt, des Widerstandes des zu bearbeitenden Materials bewußt wird, abstrahiert aus ihnen Bildflächen, die es erlauben, einen Überblick über die Lebenswelt zu gewinnen. Aber die subjektive Interpretierbarkeit der Bilder führt nach Flussers Meinung zu einer neuen Krise.
O-Ton 3
( Vilém Flusser )
Mit der Zeit wird es also notwendig, Bilder zu überholen, und man tut einen weiteren Schritt von ... man abstrahiert sich aus den Bildern, zerfetzt sie in Pixels und reiht diese Pixel zu Zeilen auf, um die Bilder wieder durchsichtig für die Welt zu machen, und um den Bilderkode zu dennotieren. Das kann an verschiedenen mesopotamischen Tafeln deutlich beobachtet werden. Ich spreche von den piktographischen Tafeln - bei den piktographischen Tafeln handelt es sich um eine Geste, bei der in die Bildfläche gegriffen wird, Bildelemente herausgerissen werden und aufgereiht werden - ich habe keine Zeit zu sagen warum aufgereiht - um kritisiert, aufgezählt, erzählt zu werden, beschrieben zu werden, kurz und gut, um aus einem Flächenkode in einen linearen Kode übertragen zu werden. Der Vorteil des linearen Kodes ist, daß er dennotativ ist, daß man ihm mehr oder weniger eindeutig folgen kann und daß er die Bilder durchsichtig macht für die Welt. Infolgedessen im Menschen, der sich ihrer bedient, eine neue Kraft ins Leben bringt, nämlich die des diskursiven-rationalen Denkens. Und dieser Kode der zerrissenen Bilder, dieser lineare Kode war tatsächlich für die Geschichte des Westens und auch anderer Kulturen, aber vor allem des Westens kennzeichnend . In Wirklichkeit kann man die Geschichte ansehen als eine fortschreitende Kritik der Einbildung, als eine Aufklärung der Einbildung, als ein Transkodieren der Einbildungskraft in die Regeln des diskursiven - rationalen, logischen, kausalen Denkens. Es hat sich aber sehr bald herausgestellt, und immer deutlicher, daß die lineare Schrift, das lineare Denken nicht immer zu richtigem Handeln führen.
Es hat sich herausgestellt, daß die Regeln, nach welchen die Bildelemente in Reihen geordnet werden, konventionell sind und daß, wenn ich diese Regeln in der beschriebenen Welt wiederfinde, ich nichts anderes tue, als meine eigenen Konventionen, die ich dort in dieser Welt erst einmal projeziert habe, zurückzugewinnen. Als sich der konventionelle Charakter der Linearität immer deutlicher herauszustellen begann, versuchte man die Pixels, die aus dem Bild gerissen sind, nicht mehr in Reihen zu ordnen, sondern jedes einzelne für sich zu manipulieren. Diese Geste des Manipulierens von Elementen aus einer Menge heißt Kalkulieren. Das Kalkulieren beginnt sehr bald, nämlich schon bei Demokrit, und die kalkulierende Denkart dringt auch tatsächlich in die lineare Schrift ein, in Form von Zahlen. Darum sprechen wir von einem alphanumerischen Kode und nicht von einem alphabetischen Kode. Die Zahlen fügen sich aber wie Fremdkörper in den alphabetischen Kode, denn sie fügen sich nicht dem Duktus.
Das numerische Denken hat eine andere Struktur als das diskursive. Ungefähr bei Descartes wird das Problem des kalkulierenden Denkens ersichtlich. Nämlich, daß es nicht adequat ist - zwischen den kalkulierten Elementen, also sagen wir einmal den Zahlen oder den Begriffen klaffen Intervalle. Zum Beispiel, um ein Beispiel zu sagen, zwischen der Zahl 1 und der Zahl 2 klafft ein Intervall, und ich kann ihn nie füllen. Wenn ich zum Beispiel hineinschreibe 1 und 1,1 dann klafft der Intervall zwischen 1 und 1,1 - ich kann ihn so nie füllen. Descartes hat versucht, die denkende Sache, also die kalkulierende Sache an die ausgedehnte Sache, also die volle Sache durch eine Methode zu adäquieren, die er die analytische Geometrie nennt. Er versuchte zu verhüten, daß die ausgedehnte Sache durch die Lücken der denkenden Sache entschlüpft, indem er die ausgedehnte Sache mit den Begriffen der denkenden Sache Punkt für Punkt zu adäquieren versuchte. Er ersetzte also den Kalkül durch die Analyse. Und darauf bauten Leibniz und Newton die Differentialrechnung auf, die darin besteht, die Differentiale, die Intervalle zwischen den klaren Elementen durch einen Kunstgriff einer höheren Ebene zu integrieren. Und das funktionierte ausgezeichnet. So daß mit der Zeit das kalkulierende Denken, mindestens in der Naturwissenschaft das beschreibende, diskursive, lineare ersetzte. Und wenn sich ein Problem stellte und man für dieses Problem eine Differentialgleichung fand, so hielt man das Problem für gelöst.
1. Sprecher :
Flusser spricht hier von einer Aufspaltung des Denkens und der sich daraus ergebenden Parallelität zwischen zwei Denkarten; dem logisch-diskursiven Denken und dem analytisch-mathematischen Denken. Im Gegensatz zu den vorherigen Krisen, das heißt, dem Übergang von Objekt zum Bild und dann vom Bild zum Text, ist die Entstehung des kalkulierenden Denkens eher als eine Opposition zum logisch aufgebauten Diskurs zu verstehen, das jetzt nur noch eine Gruppe von Spezialisten, nämlich die Mathematiker und die Naturwissenschaftler angeht, und das die Existenz und Anwendbarkeit des logisch-diskursiven Denkens nicht in Frage stellt.
O-Ton 4
( Vilém Flusser )
Es gingen also, sagen wir, 300 Jahre lang in unserer Geschichte und unbeobachtet für die meisten Menschen zwei Prozesse vor sich : auf der einen Ebene, sagen wir, der normalen gebildeten Menschen ging der Diskurs weiter, die Aufklärung ging weiter aber auf einer anderen, sagen wir, auf der der exakten Naturwissenschaften wurde die Aufklärung einer anderen Kritik unterworfen, und das diskursive Denken ging im analytischen Denken unter. Die harten Wissenschaften dachten analytisch, in Differentialgleichungen. Die Differentialgleichungen gewannen aber ungefähr um das Jahr 1920 eine entsetzliche Komplikation. Um angewandt werden zu können, als Handlungsmodelle, müssen die Gleichungen numeriert werden. Sie müssen in Zahlen umgesetzt werden. Dazu ist zu sagen, daß die analytischen Gleichungen Symbole von Zahlen sind. Zahlen werden in der Analyse nicht als Symbole angesehen, sondern als Sachen. Es gibt natürliche Zahlen, es gibt reale Zahlen, usw. Die Zahlen werden als Sachen angesehen. Die Kritik der Zahl steht jenseits des analytischen Denkens. Für das analytische Denken ist die Gleichung, der Algorythmus, ein Symbol für Zahlen, und damit ich es anwenden kann, muß ich die Gleichung auf die Zahlen zurückführen, das meine ich, wenn ich sage, man muß sie numerieren. Eine unangenehme Entdeckung ungefähr um diese Zeit war, daß das mathematische Denken auf das logisch-diskursive nicht rückführbar ist. Obwohl Rüssel und Vitez, im Prinzip ja Mathematiker, sich bemüht haben, das mathematische Denken auf das logisch-diskursive zurückzuführen, mußten sie feststellen, daß das nicht möglich ist. Es sind zwei verschiedene Denkarten, die nicht aufeinander rückführbar sind - also, den Inhalt einer analytischen Gleichung kann man nicht aussagen. Es ist nicht logisch, sondern folgt einer anderen Regel, der numerischen Regel. Das ist eine Schwierigkeit. Und jetzt kam dazu, daß man die komplexen Gleichungen der Analyse nicht mehr numerieren konnte, obgleich man, sagen wir, in einem Ingenieurbüro, Hunderte von Sklaven angestellt hatte, die versuchten, diese Gleichungen zu numerieren. Und während 30 Jahren kam gewissermaßen das Anwenden der reinen Physik und Chemie ins Stocken. Man konnte nicht übersetzen. Die meisten Leute sind sich dieser Krise nicht bewußt. Einstein war einer der letzten, der noch analytisch gedacht hat.
Computer sind erfunden worden zum numerieren von analytischen Gleichungen. Wenn die Computer nicht erfunden worden wären, dann wäre die Naturwissenschaft aus praktischen Gründen ins Stocken geraten. Viele Leute sind sich der Sache nicht bewußt. Aber jetzt geschah eine seltsame Wende. In dem Moment, wo man Computer hatte, wurde es gar nicht mehr nötig zu analysieren. Denn die Computer konnten direkt kalkulieren. Also man ist in die Primitivität des Fingerzählens, des Digitalisierens zurückgefallen. Die ganze herrliche Eleganz, die Schönheit der Analyse wurde vollkommen unnötig, denn man konnte jetzt das Problem direkt numerieren, oder chiffrieren, oder wie Sie das nennen wollen.
Es stimmt nicht genau was ich sage, denn natürlich, der Computer muß mit Analyse gefüttert werden. Aber die Feinheit der Analyse wird dem Computer überlassen, und was uns interessiert ist nicht mehr die Problemstellung, sondern die Lösung des Problems. So, das ganze war eine Einschiebung.
Also, mit dem Computer, und meiner Analyse nach beginnt dieses Computieren schon mit der Photographie, - die Photographie ist ein primitives Computieren, analysiert nicht mehr, sondern computiert ... Ich streiche das Wort computieren, überall wo ich bisher computiert gesagt habe, lesen sie kalkulieren. Also, man konnte jetzt kalkulieren, man mußte nicht mehr analysieren. Kalkulieren ist ein Herausreißen von Punktelementen aus einem Kontext. Kalkulieren ist Nulldimensional. Es ist eine weitere Abstraktion da – von der Linie in den Punkt und in den Intervall, also ins Nichts, in die Null-Dimension. Jetzt erst existiert der Mensch wirklich, jetzt erst ist er wirklich abstrakt, er ist Nichts, er ist im Punkt und im Intervall.
1. Sprecher :
“Der Mensch ist nichts“, sagt Vilém Flusser, “er ist im Punkt und im Intervall, die keine Dimensionen haben und damit ist er zum erstem Mal wirklich abstrakt.” Hier stellt sich wieder die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Denken und Welt – inwieweit bedeutet die menschliche Fähigkeit zur Erarbeitung des abstrakten Konzeptes des Nichts gleichzeitig auch den Zerfall der Lebenswelt zu einem realen Nichts ? Die Frage nach der Realität desNichts, so komisch sie klingen mag, ist beim kritischen Betrachten von Flussers Modell durchaus angebracht. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Denken des Nichts und dem Nichts selbst, auf den Flusser aber überhaupt nicht eingeht. Die postulierte Neuartigkeit des computierenden Denkens maskiert eine uneingestandene Faszination für das magische Universum, in dem das Denken der Welt und die Welt eins sind. Man könnte natürlich auch sagen, daß Flusser die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins bereits aus dem Blickwinkel des neuen Denkens beschreibt, das die Welt nur noch als ein vom Menschen beliebig manipulierbares Feld von Relationen sieht. Aber dann stellt sich die Frage, ob der solchermaßen im Nichts aufgelöste Mensch überhaupt noch zum Manipulieren fähig ist.
O-Ton 5
( Vilém Flusser )
Ohne jede ideologische Verbrämung der Sache kann man hier sagen, daß der Mensch ins Nichts herausfällt. Und dort möchte ich die Entstehung der neuen Bilder lokalisieren. Ich wiederhole diese vier Schritte zurück. Dank dem ersten Schritt entstehen Gegenstände, Kulturgegenstände. Dreidimension. Dank dem zweiten entstehen Bilder. Zweidimension. Dank dem dritten entstehen Texte – eine Dimension. Dank dem vierten entstehen Kalkulationen – Nulldimension.
Von da aus kann ich nicht mehr zurück. Aber ich kann nach vorne wieder, anstatt zu abstrahieren kann ich projezieren. Ich kann jetzt, anstatt mich weiter von der Welt zu entfernen, in sie Zurückschlagen. Ich kann konkretisieren. Ich kann die Punkte, in die ich die Welt zersetzt habe, also sagen wir die Moleküle und Atome und Gene und wie immer Sie das nennen wollen, Kulturreme, usw. – diese vollkommen zersetzte, durchkalkulierte Welt kann ich jetzt wieder zusammenraffen und zu einer simulierten Scheinwelt zusammenraffen. Und dieses Zusammenraffen heißt Computieren. Ich kann infolgedessen jetzt mit den Apparaten, denn mit den Fingern kann ich das nicht, die Dinge sind zu klein, sie sind ja nix - dank Apparaten kann ich die Punkte computieren und zum Beispiel in Bildform projezieren. Das ist die neue Einbildungskraft. Die neue Einbildungskraft, im Gegensatz zur alten, ist nicht die Fähigkeit zu abstrahieren, sondern zu konkretisieren. Sie ist nicht die Fähigkeit zurückzuschreiten, sondern nach vorne zu gehen. Und die Bilder, die sie herstellt, sind zweidimensional, nicht weil sie Abstraktionen aus einer vierdimensionalen Welt sind, sondern weil sie Konkretionen aus nulldimensionalen Punkten und Intervallen sind. Das ist die körnige Struktur dieser neuen Bilder, und diese körnige Struktur ist für das Verständnis der neuen Bilder und der neuen Einbildungskraft notwendig.
1. Sprecher :
Die körnige Struktur der neuen Bilder ist die Art, wie sich die Welt einem Menschen darstellt, der sie durch das Raster des computierenden Denkens sieht; eine Welt aus Punkten und Intervallen. Aber Flusser sagt selbst, daß es sich hier um eine simulierte Scheinwelt handelt. Die Realität der Welt und damit die Möglichkeit, die Welt sinnlich zu erfahren, scheint sich in der körnigen Struktur der neuen Bilder verflüchtigt zu haben.
In Flusser´s auf vier Dimensionen aufgebauten Evolutionsmodell ist das Entstehen der “ neuen Einbildungskraft “ oder des “ neuen Denkens “ klar nachvollziehbar - nicht mehr Abstraktion, sondern konkrete Geste, nicht mehr “ aus der Welt herausgehen “, sondern“ auf die Welt Zurückschlagen “, wie Vilém Flusser sagt. Schwierig wird es, wenn man versucht, sich die Konsequenzen und die praktischen Auswirkungen dieses “Denkens in der Null-Dimension“ vorzustellen.
In seinem Buch “Ins Universum der technischen Bilder“ entwirft Flusser das Modell einer telematischen Gesellschaft, das heißt, einer Gesellschaft, deren einziges Ziel darin besteht, Informationen herzustellen und diese Informationen an eine größtmögliche Zahl von Dialogpartnern weiterzugeben. Der von Arbeit befreite Mensch, so Vilém Flusser, entwickelt sich jetzt wirklich zu einem “ homo ludens “, einem spielenden Menschen. Dieser Mensch, der im Grunde nur noch aus Fingerspitzen und aus Gehirn besteht, denn der Rest des Körpers ist unwichtig geworden, ist über die Koppelung mit seinem Personalcomputer Bestandteil eines Art Übergehirns, eines gewaltigen, planetären Kommunikationsnetzes, dessen Knotenpunkte abwechselnd aus künstlichen und aus menschlichen Intelligenzen bestehen. Was Vilém Flusser an diesem Netzmodell interessiert, ist die Möglichkeit eines totalen Dialoges - ein Dialog, der nicht nur die geographischen Distanzen zwischen den einzelnen Dialogpartnern abschafft, sondern auch die historischen Dimensionen verändert.
Die Geschichte der Menschheit wird zur Gegenwart, denn sämtliche Informationen sind ja ständig verfügbar. Die Geschichte, die Vergangenheit kann in jedem Moment, an jedem beliebigen Punkt der Erde neu geschaffen werden. Der immaterielle Charakter der auf dem Computerterminal erscheinenden Bilder, seien es geschichtliche Informationen oder Zukunftsvisionen, macht sie veränderbar, manipulierbar. Indem die Zeit sich nicht mehr, wie im historischen Denken, linear von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft entwickelt, sondern auf dem Terminal in Form eines mehr oder weniger wahrscheinlichen Szenarios abgebildet wird, verliert sie ihre historische Dimension und wird zu einem statistisch kalkulierbaren Zufall. Die Zukunft wird zu einem Wahrscheinlichkeitswert der Gegenwart. Alles ist Gegenwart. Natürlich ist es nicht die Zeit “an sich”, die sich verändert, es ist vielmehr dieses “an sich“, dieser Anspruch auf objektive Meßbarkeit, den man der Zeit nicht mehr zuerkennen kann, denn die Konzeption von Vergangenheit und Zukunft verändert sich unter dem Druck der neuen Einbildungskraft .
Der Begriff des Zufalls hat eine zentrale Stelle in Flussers Denkmodell. Es geht ihm im Grunde um die Überwindung des Zufalls, um die Überwindung des zufälligen Charakters der Schöpfung. Hier wird der metaphysische Hintergrund des “ neuen Denkens “ deutlich - Flusser will das Würfelspiel der Natur, die immer nur eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten verwirklicht, nicht akzeptieren, oder nicht mehr akzeptieren.
Die natürliche Zerstörung der Welt, der vorprogrammierte Wärmetod des Universums, der im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ausgedrückt ist, soll durch die bewußte Erzeugung von Informationen überwunden werden. Stark vereinfachend könnte man das auf folgende Formel bringen: Entweder verliere ich Wärme in zufälligen Lebensprozessen, oder ich erzeuge bewußt Informationen und gewinne mit jeder neuen Information ein Stück Unsterblichkeit. In Flussers Modell wird das menschliche Leben nicht mehr von Zufällen geleitet, sondern im Laboratorium mit statistisch berechenbarer Wahrscheinlichkeit erzeugt. Der Mensch wird zum Meister seines Schicksals, denn er kann den Begriff Schicksal jetzt kalkulatorisch zerlegen und neu zusammensetzen - computieren.
O-Ton 6
( Vilém Flusser )
Diese statistische Sicht der Wahrscheinlichkeitsrechnung als Ausdruck der Mathesis der Welt, verdrängt nicht die kausalen Gleichungen, sondern beinhaltet sie. Ich möchte dazu ein Beispiel geben. Wir haben ein anderes Zeitmodell. Das historische Zeitmodell, das kritische Zeitmodell ist das der Zeit als ein univoker Strom, der aus der Vergangenheit in die Zukunft zieht, durch die Gegenwart läuft, ohne sich dort aufzuhalten und alles mitreißt. Infolgedessen gibt es in diesem Zeitmodell kein Sein, sondern nur ein Werden. Alles ist Prozeß. Dieses Modell ist nicht aufrechtzuerhalten. Und es bietet sich ein anderes Modell an.
Bedenken Sie, daß bei dem jetzt eben erwähnten Modell die Zeit eine andere onthologische Würde hat als der Raum. Sie reißt den Raum mit sich, der Raum ist in der Zeit. Das Modell, das ich Ihnen jetzt vorschlagen werde ... sieht Zeit und Raum als eins. Danach gibt es etwas, das ist – das ist die Gegenwart. Und zwar ist die Gegenwart dort, wo ich bin. Die Gegenwart ist definiert von meinem Dasein. Gegenwart und “ da “ sind Synonyme. Diese Gegenwart ist umhüllt von einem Horizont, aus dem die Möglichkeiten ankommen. Ich werde mal provisorisch diesen Horizont Zukunft nennen, weil nämlich von dort die Sachen ankommen, obwohl ich selbst auch hingehe. Ich selbst kann ja auch mich dort hinprojezieren, und es kommt dann zu einem Zusammenstoß zwischen dem Ankommen und dem Vorangehen, oder um es besser zu sagen, zwischen Zukunft und Abenteuer.
Je näher die Zukunft an die Gegenwart heranrückt, desto wahrscheinlicher wird sie. Und das Vergegenwärtigen der Zukunft, also das Verwirklichen der Möglichkeiten, ist dann die Grenze der Wahrscheinlichkeit. Die Wirklichkeit wird dann ein Grenzwert der Wahrscheinlichkeit. Aber die Möglichkeiten, die von der Zukunft heranrücken sind nicht mit einem magnetischen Feld zu vergleichen. Ich kann nicht sagen, die Möglichkeiten entsprechen Eisenspänen, die Gegenwart entspricht dem Magnet, und die Feldstruktur der Zukunft ist vergleichbar mit der Feldstruktur des magnetischen Feldes. Ich kann es deshalb nicht sagen, weil nämlich die Möglichkeiten ausweichen können. Sie können sich umdrehen und Unmöglichkeiten werden. Sie können sich bündeln. Was die Futurologie macht, ist nichts anderes, als dieses Feld der Möglichkeiten ins Bild zu setzen. Deshalb denken wir, wenn wir an die Zukunft denken, immer mehr und mehr in Szenarii und immer weniger und weniger in Projektionen, weil diese Szenarii uns bildlich vor Augen führen, wie sich die einzelnen Möglichkeiten verhalten.
Das ist Zufall. Zufall ist diese Tendenz der Möglichkeiten, sich zu packeln und zu bündeln, zu verknoten, dann wieder zu entknoten, wieder auseinanderzulaufen. Ich habe die Möglichkeit durch diese Szenarii mit der Zukunft zu spielen, immer Wahrscheinlichers herauszuklauben und schließlich mit einem exakt kalkulierbaren “ margin of error “ die Zukunft vorauszusehen. Aber ich habe auch die umgekehrte Möglichkeit, nämlich Unwahrscheinliches vorauszusehen und dann versuchen, das Unwahrscheinliche zu realisieren – das heißt informieren. Und das ist Kunst. So entsteht eine neue Dialektik innerhalb des Spiels des Zufalls. Die eine, die futurologische, Wahrscheinliches vorauszusehen und dann darauf zu reagieren, und die andere Möglichkeit, gerade umgekehrt Unwahrscheinliches vorauszusehen und es zu realisieren.
1. Sprecher :
Die Möglichkeit, gerade unwahrscheinliche Situationen zu realisieren und damit neue, nicht vorhergesehene Informationen zu schaffen, die dann per Computer an alle Dialogpartner weitergegeben werden können, stellt für Vilém Flusser die positive, künstlerisch-spielerische Facette dieser zukünftigen telematischen Gesellschaft dar. Die negative Facette wäre die Beibehaltung und Ausweitung der aktuellen Mediensituation, das heißt, eine Ausstrahlung der Informationen durch einen zentralen Sender und eine passive Rezeption durch den Empfänger, der keine Möglichkeit, hat die Informationen zu beeinflußen.
In beiden Varianten von Flussers Szenario hat der Begriff der Information einen zentralen Stellenwert, er wird beinahe zu einem neuen Fetisch. Informationserzeugung ist die Grundlage und der Lebensinhalt einer zu einem gigantischen Kommunikationsnetz verkabelten Menschheit, die von einem kosmischen Spielrausch ergriffen immer Unwahrscheinlicheres zu realisieren versucht. Vilém Flusser wird beim Beschreiben dieser Situation selbst vom Grauen ergriffen und ist froh, dieses Modell in seiner radikalen Form nicht mehr selbst erleben zu müssen, denn auch er kann sich dem grundlegenden Zweifel nicht entziehen: worüber werden alle diese künstlichen und menschlichen Intelligenzen sprechen, dialogisieren, da sie ja alle die gleichen Informationen und den gleichen Informationshintergrund haben ? Diese Frage bleibt vorerst unbeantwortet, und Flusser entzieht sich dem Zweifel an seinem Modell, indem er wieder auf dessen gedankliche Fundamente, nämlich die neue Einbildungskraft zurückgeht.
In der statistisch-kalkulierenden Vorgehensweise, die die Welt nur soweit akzeptiert, als sie irgendwo auf der Skala zwischen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit zu lokalisieren ist, liegt nach Flussers Auffassung der Keim zu einem neuen politischen Denken.
O-Ton 7
( Vilém Flusser )
Das aufklärerische, diskursive, lineare Denken sieht in der politischen Frage, die Frage nach einem Engagement entweder daran den Menschen zu ändern, oder daran die Gesellschaft zu ändern, oder dialektisch sieht sie das als - wenn der Mensch die Gesellschaft ändert, ändert er sich, und wenn sich der Mensch ändert, ändert sich die Gesellschaft usw. Das ist die traditionelle Fragestellung. Sobald ich ja doch mit der neuen computierenden Sicht komme, dann erscheint mir nicht mehr die Gesellschaft, sondern es erscheint mir ein Feld von Möglichkeiten, von intersubjektiven Relationen, die ich entweder programmieren kann oder deprogrammieren.
Hinter der Frage des politischen Engagements ist die Frage des Engagements überhaupt.
Und das ist die Frage der Freiheit.
Solange ich kausal denke, also antimagisch, stellt sich mir die Freiheit als das Problem, das unlösbare Problem, aus der Verkettung in die kausalen Bedingungen auszubrechen. Das Problem ist unlösbar, denn ich sehe ja jetzt die Welt doch nur als eine Kette von kausalen Ereignissen. Freiheit hieße dann, irgendwie aus der Struktur der Wirklichkeit auszubrechen. Vorher, im magischen Denken, stellt sich die Frage nach der Freiheit anders. Denn im magischen Denken, wo alles ein Kontext ist, in dem die Dinge gegeneinanderstoßen und sich gegeneinander irgendwie verhalten, nach der Ordnung der Zeit, denn die Zeit kreist ja dann in der Welt und reißt sie noch nicht mit, ja - da stellt sich die Freiheit als Frage nach dem, sagen wir, Schicksal.
Und sie stellt sich negativ. Im griechischen Denken ist der Mensch, der Freiheit sucht, also der Held, zum Scheitern verurteilt, und der Philosoph ist gerade jener, der die Tugend hat, sich dem Schicksal zu fügen. Also, der Freiheitsbegriff ist sehr verwandt mit dem jüdischen Sündbegriff. Freiheit und Sünde sind beinahe dasselbe. Im Griechischen heißt ja die Suche nach Freiheit “ Hybris “, also sozusagend Sünde.
Im kritischen Denken stellt sich die Frage, wie gesagt, als die unmögliche Herausforderung, die Bedingungen zu brechen. Aber im neuen Denken, wenn sie versuchen, die neue Einbildungskraft ins Spiel zu bringen – wo doch sich dann die Welt durchkalkuliert zeigt, das heißt, als ein Feld von null-dimensionalen Möglichkeiten, als ein virtuelles Feld, sagen wir, als ein Chaos, in dem die fraktalen Gleichungen mit dem Begriff Chaos operieren – stellt sich ja die Freiheit– ganz anders, nämlich als Möglichkeit, aus einem chaotischen Feld von Möglichkeiten Wirkliches herzustellen. Die Frage heißt dann nicht mehr Freiheit wovon, sondern Freiheit wofür. Und der Gegensatz zu Freiheit ist dann nicht mehr Bedingung, sondern Zufall. Und das ist eine vollkommen neue, meiner Meinung nach, denn es war schon immer angelegt, aber neu ins Bewußtsein gedrungene Fragestellung nach der Freiheit. Freiheit als kreatives Engagement, Freiheit als die Möglichkeit Virtualitäten zu realisieren, nicht nur draußen in der Welt, sondern auch in mir.
Ich will nicht zu radikal sein. Ich will nicht sagen, daß der Zufallsbegriff nicht die Kausalität irgendwie in sich birgt. Es ist eine Dialektik zwischen Zufall und Kausalität da. Aber es ist existentiell etwas anderes, wenn ich mich nicht mehr als bedingt, sondern als zufällig geworfen ansehe. Wenn ich nicht mehr glaube, daß ich in die Welt als ein bedingtes Wesen gestellt bin, sondern daß ich absurderweise ins Chaos geworfen wurde, in dem ich allerdings eine ganze Reihe von Bedingungen feststellen kann, das aber grundsätzlich chaotisch ist, fraktal.
Wenn ich diese kalkulierend-computierende Sicht habe, dann habe ich eine andere Einstellung zur Freiheit und infolgedessen auch zur Politik und zur Kunst. Zu allen Werten. Dann nämlich ist die Frage nicht mehr, was mache ich mit den Dingen, die gegeben sind, sondern was mache ich mit den Möglichkeiten, um aus ihnen Wirklichkeiten zu machen. Es ist eine kreative Einstellung.
1. Sprecher :
Das Herausfallen aus der Kausalkette von dem Flusser spricht, liefert vielleicht den Schlüssel, um die neue Einbildungskraft zu verstehen. Die Ähnlichkeit mit dem sogenannten magischen Denken, das unserem kritisch-diskursiven Denken vorausgegangen ist, scheint auf den ersten Blick sehr groß zu sein. Sowohl im magischen, als auch im neuen, computierenden Denken geht es nicht darum, die Welt zu verstehen und aus diesem Verständnis Handlungsmodelle zur Veränderung der Wirklichkeit abzuleiten, sondern es geht um die künstliche Schöpfung von Objekten, beziehungsweise von Szenarii, die durch ihre magische Kraft, beziehungsweise die Wahrscheinlichkeit, mit der sie aus der Zukunft ankommen, unsere Lebenswelt beeinflußen. Der Computerkünstler oder der Futurologe, der vor seinem Bildschirm sitzt, ähnelt einem Magier, der versucht, durch rituelle Handlungen die Wirklichkeit so zu beeinflussen, daß sie einer Vorstellung, zum Beispiel einer Traumsituation gleich wird. Das absurde Chaos aus Punkten und Intervallen, in das die Welt der Nulldimension zerschlagen ist, ähnelt dem Dunkel einer magischen Grotte, aus deren Tiefen in jedem Moment Gesichter und andere Gaukelbilder auftauchen können. Die Eindringlichkeit, mit der Vilém Flusser die Kalkulierbarkeit der Zukunft beschreibt, nimmt in seinem Modell den Charakter einer Beschwörung an. Vom Standpunkt des kritisch-diskursiven Denkens gesehen, hat die neue Einbildungskraft etwas von einem Wunschdenken an sich, das dem Menschen, der endgültig auf die rationale Erklärung der Welt verzichtet hat, nun auf einem anderen Weg die Mittel zur Neuschöpfung des Lebens in die Hand geben soll. Denn es geht im Grunde um den uralten Menschheitstraum von Unsterblichkeit und absoluter schöpferischer Macht.
Vilém Flusser rechtfertigt die revolutionäre Neuheit des computierenden Denkens durch den Vergleich mit den hergebrachten Kodes, also den traditionellen Lesearten der Welt, wie Bildern und Texten, die verschiedene Stufen der Abstraktion, das heißt, des Herausgehens aus der Lebenswelt darstellen. Beim computierenden Denken handle es sich dagegen um ein Konkretisieren, ein “Zurückschlagen“ auf die Welt, wie Flusser sich ausdrückt. Aber dieser Begriff des Feedbacks ist problematisch, und das wird an einem praktischen Beispiel sehr deutlich.
Gewisse mathematische Gleichungen, die sogenannten Fraktale, das heißt, Gleichungen, die sehr komplexe und unregelmäßig geformte Strukturen, wie Küstenlinien oder Gebirgszüge ausdrücken können, erlauben es zum Beispiel, im Laboratorium auf Bildschirm eine synthetische Darstellung des Matterhorns abzubilden. Die Tatsache, auf dem Bildschirm eine künstliche Struktur zu sehen, die dem Matterhorn ähnelt und die beliebig verändert oder sogar vernichtet werden kann, hat vielleicht zur Konsequenz, daß der Betrachter in der Realität das Matterhorn auch nur noch als eine fraktale Gleichung sieht. Daraus ergibt sich die wesentliche Frage, inwieweit die künstliche Schöpfung des Matterhorns auf dem Bildschirm dem Betrachter eine reale Macht oder auch nur eine reale Möglichkeit der Einflußnahme auf die Steinmasse des real existierenden Matterhorns gibt. Natürlich würde ein Futurologe, ein computierender Denker diese Frage als falsch gestellt qualifizieren und dem Fragesteller vorwerfen, zu sehr im kritischen Denken verhaftet zu sein, um die neue Einbildungskraft auch nur im Ansatz zu verstehen. Aber dieser Einwand ist zu einfach.
Es genügt nicht, die Position der Kritik für irrelevant zu erklären und sich damit der Kritik zu entziehen. Die Irrelevanz der Kritik müßte zu mindestens nachgewiesen werden, und diesen Nachweis hat das neue Denken bisher noch nicht erbracht.
In Hinblick auf die traditionellen Bilder hat Vilém Flusser gezeigt, daß sie durch ihre innere Dialektik notwendigerweise zu magischen Handeln führen – sie schieben sich zwischen Lebenswelt und Betrachter, der diese Welt schließlich nur noch in Funktion der Bilder sieht. Aber können nicht auch die neuen, im Computer synthetisierten Bilder, obwohl sie aus einer raffenden, konkretisierenden und nicht mehr aus einer abstrahierenden Geste entstehen, zu magischem Handeln führen ? Darüberhinaus ist auch dieser Anspruch auf Konkretisierung mit Vorsicht zu genießen. Solange das neue Denken nicht beweisen kann, daß es sich bei dem künstlichen Matterhornbild nicht um eine weitere Abstraktion, nämlich eine Abstraktion aus den Daten des Apparatprogrammes handelt, haftet diesem Denken der Ruch der magischen Wunscherfüllung an. Es ist die konkrete Einwirkung der synthetischen Bilder auf die konkrete Welt, die hier in Frage steht. Es genügt nicht, der Realität chaotische Grundstrukturen nachzuweisen, um dann mit Hilfe einer Formel zur Ordnung des Chaos dieselbe Realität als eine künstliche Neuschöpfung darzustellen, die allein durch die schöpferische Intelligenz des Formelbesitzers kontrolliert werden kann.
Die Möglichkeit, plötzlich sehr komplizierte, abstrakte Konzepte auf einem Bildschirm in Form von synthetischen Bildern visualisieren zu können, ist natürlich faszinierend, aber diese Faszination darf eine kritische Reflexion über die Realität und die praktischen Auswirkungen dieser künstlichen Bilder auf das menschliche Handeln nicht unterbinden. O-Ton 8 ( Vilém Flusser )
Die Faszination ist doppelt, erstens, daß wir ausbrechen aus einer jahrhundertelangen Tradition in etwas, wofür wir nicht kompetent sind, oder noch nicht kompetent sind - das ist die eine Faszination und zweitens, daß uns plötzlich Horizonte eröffnet werden, die Abenteuer gestatten, von denen wir uns früher haben nicht träumen lassen. Ich will Ihnen ein Beispiel aus der Genetik geben. Die Genetik ist etwas, das uns ganz besonders fasziniert. Warum ? Ich werde es versuchen so zu sagen : Wir haben jahrhundertelang im Leben auf der Erde eine bestimmte Menge von Organismen gesehen, Lebewesen, die miteinander in Beziehung sind, die einander bekämpfen oder miteinander Zusammenarbeiten, und die sterben, und die Junge haben, usw.. Und wir haben uns vorgestellt, daß dieses Leben auf Erden sich irgendwie verästelt. Jetzt haben wir plötzlich einen ganz neuen Blick. Wir sehen eine breiartige Decke auf der Erdoberfläche, die aus Tropfen besteht. Die Tropfen sind unsterblich, teilen sich – im Prinzip unsterblich, natürlich können sie sterben, aber sie müssen nicht sterben, sie teilen sich und bei jeder Teilung geben sie Informationen weiter. Diese Informationen sind meistens treu, aber oft auf Irrtümern beruhend – und so verzweigt sich diese Biomasse mit immer mehr verzweigten Informationen. Und daraus kommen Organismen heraus, wie Seifenblasen, die auftauchen und dann wieder zurücktauchen. Und diese Phänotypen sind nur die Oberfläche des Lebens. Das wahre, wirkliche Leben ist diese Masse von Keimzellen. Sobald ich so etwas erkenne, kann ich eingreifen. Es dreht sich einem der Kopf, wenn man das bedenkt, aber ich kann bewußt und absichtlich in den Lebensprozeß eingreifen. Ich kann diese Informationen beeinflußen und Lebewesen erzeugen, so wie sie vorher nicht bestanden haben, sondern so wie ich sie mir in einem Computer auskalkuliert habe. Ich kann Chimären erzeugen. Diese Art von Computation ist deshalb faszinierend, weil ich plötzlich echter Künstler werde. Was nämlich ist die Absicht der Kunst ? Die Absicht der Kunst ist ja nicht nur, Unwahrscheinliches zu erzeugen, um zu erhalten, sondern auch so, daß dieses unwahrscheinlich Erzeugte ein Eigenleben führen möge. Der Künstler ist eigentlich ein Schöpfer von Leben. In allen möglichen Mythen ist das vorausgesehen, nicht wahr. Im Golem oder wenn Leonardo zu seinem Moses sagt : Rede !  ...  Das  können wir jetzt. Zum ersten Mal ist Lebenskunst wirklich möglich, es ist möglich, Lebendiges herzustellen. Na wissen Sie, ich kann mir nichts faszinierenderes vorstellen.
Wir haben bisher geglaubt, daß in der Welt eine grundlegende Ordnung herrscht, daß zwar die Dinge oberflächlicherweise verworren ausschauen, wenn wir sie aber analysieren, wir auf einfache Formen kommen. Auf diesem metaphysischen Glauben, wenn ich mich so ausdrücken darf, basiert sich die pythagoreische Geometrie.
Sie sagt, wenn ich eine Sache analysiere, schließlich muß ich auf einfache Formen kommen, zum Beispiel, auf Geraden oder auf Flächen oder auf Quadrate, auf Würfel oder auf Sphären, ja ?! Es stellt sich aber heraus, daß die meisten Phänomene nicht auf einfache Formenzurückprojeziert werden können, sondern daß sie “ self similar “ sind, daß sie die gleiche Komplexität auf allen Ebenen der Untersuchung haben. Davon muß ich nicht verzweifelt sagen, also die Welt ist ein Chaos, sondern ich kann diese Struktur formalisieren. Ich kann Formeln für diese fraktale Struktur finden, und wenn ich diese Formeln projeziere, kommen selbstverständlich diese Dinge auf den Schirm, wie Wolken oder Bäume oder solche Sachen, nicht wahr.
Und das erlaubt mir, das als Modelle zu behandeln und diese Dinge zu verwenden. Nicht mehr im Sinn der klassischen Wissenschaft, indem ich sage, ich erklär die Sache zuerst und dann bekämpf ich sie, sondern gerade umgekehrt - ich nehm die Sache so an, wie sie ist und bekämpf sie so. Das ist doch eine neue Weltsicht.
1. Sprecher :
Die Welt als schwarze Kiste zu betrachten, das ist ein Stichwort, daß in Vilem Flussers Büchern, aber auch im Gespräch mit ihm immer wieder auftaucht. Die ersten schwarzen Kisten waren die Photoapparate, später kamen die Computer und schließlich ist es die ganze Welt, die einem Apparat ähnlich wird, der zwar von Menschen programmiert ist, dessen Funktionieren aber keiner mehr verstehen will oder noch verstehen kann. Was interessiert ist nicht mehr das Durchleuchten eines Problems, sondern die Lösung, die dieses Problem aus der Welt schafft. Daß dieses Denken, diese neue Einbildungskraft von der Flusser spricht, im Bereich der Genetik und allgemein der Biologie verblüffende Resultate hervorbringt, ist unbestreitbar. Aber es ist zu überlegen, ob diese Resultate wirklich aus dem assimilierten neuen Denken entspringen, oder ob sie nicht vielmehr ein kritisches, magisches und vormagisches Manipulieren von Technologien sind, die im Grunde keiner  mehr  versteht. Abgesehen von der ethischen Frage, inwieweit der Mensch das Recht hat, in den Lebensprozeß einzugreifen, ist die Krise im neuen Denken schon angelegt und voraussehbar. In Flussers Evolutionsmodell wird ein neues Denken, ein neuer Kode, immer aus einer Krise geschaffen – als der Mensch die Welt nur noch in Funktion der Objekte sah, wurden die Bilder geschaffen, als sich die Bilder zwischen Mensch und Welt schoben, wurden sie zerrissen und der lineare Text entstand. Die Gefahr, die latente Krise im neuen Denken liegt gerade in der Tatsache, daß es nicht mehr verstehen will, sondern sich auf Lösungen beschränkt. Ein Problem wird formuliert, es wird in die schwarze Kiste, zum Beispiel, den Computer gefüttert, und am anderen Ende erscheint die Lösung. Was im Computer vor sich geht, also die Programmerfüllung, bleibt für die Mehrzahl der Menschen unverständlich. Die Gefahr liegt darin, die Welt schließlich nur noch als eine Funktion des Programms, also als eine Funktion der schwarzen Kiste zu sehen. Das Programm wird zum Fetisch, um den sich die Welt artikuliert. Vilém Flusser ist sich dieser beinahe religiösen Dimension des computierenden Denkens durchaus bewußt.
O-Ton 9
( Vilém Flusser )
Es sind zwei verschiedene, sagen wir, Ausgangspunkte auf die Probleme. Wenn ich das Wort Problem in seinem ethymologischen Sinn nehme, nämlich etwas was mir im Weg steht, das mir als “Objekt” entgegengeworfen wurde, dann kann ich dazu zwei Standpunkte einnehmen. Entweder ich kann sagen, ich möchte das Problem durchblicken, und nachdem ich es durchblickt habe, nach der eigentlichen Struktur dieses Problems aus dem Weg schaffen. Oder ich kann mir sagen, ich leb nicht sehr lange. Hinter diesem Problem gibt es noch eine ganze Reihe von anderen. Was mich interessiert, ist das Problem aus dem Weg zu schaffen. Ganz egal, was drinnen ist – eine Methode finden, die, wenn ich auf das Problem wirke, das Problem weg ist. Dieser zweite Standpunkt war bisher als der primitive, sagen wir, magische Standpunkt angesehen. Und jetzt plötzlich macht er einen Purzelbaum, und er wird der rationale Standpunkt. Plötzlich erweist es sich als rationeller, das Problem unaufgeklärt zu lassen und es unaufgeklärt zu lösen. Ich hab mir noch nicht richtig über diese kybernetische Einstellung den Kopf zerbrochen, aber es hat etwas Religiöses an sich. Nämlich das Geheimnis im Geheimnis zu lassen. Die Tatsache, daß wir nicht mehr analysieren müssen, sondern die Analyse dem Computer überlassen, und daß wir uns mit der Lösung der Probleme, mit der Numerotisierung begnügen können, ist zugleich eine Verarmung und eine Bereicherung. Und ich bin mir noch nicht klar, ob die Verarmung oder die Bereicherung größer ist.
Denn die Schönheit der Analyse, das heißt, die Schönheit der kritischen Vernunft ist doch ein starkes Argument. Wir verlieren die Schönheit des kritischen Denkens und gewinnen die Schönheit der neuen Einbildungskraft. Ich kann das nicht auswägen.
1. Sprecher :
Vilém Flussers Versuch, aus der Geste des synthetischen Bildermachens die Grundzüge eines neuen Denkens abzuleiten, läßt viele Fragen offen. Zum einem die Frage nach der wirklichen Neuheit dieses Denkens, zum anderen die Frage nach den Konsequenzen, nach der praktischen Anwendung der neuen Einbildungskraft.
Das eine Umstrukturierung unseres Denkens und damit eine Veränderung unserer Werteskala nicht ohne Rebellion der vorangegangenen Denkmodelle vor sich geht, dessen ist sich Flusser bewußt. Er spricht von verschiedenen Bewußtseinsschichten, die sich gegenseitig beeinflußen. Die neue Einbildungskraft liegt, nach seiner Vorstellung erst wie ein dünner Schleier über den Schichten des kritischen und des bildhaften Bewußtseins und wird sich dagegen zu behaupten haben. Vilém Flussers Denkmodelle sind Provokationen, Aufforderungen, die sicheren Positionen des kritischen Denkens zu verlassen und zu versuchen, die Welt aus dem Intervall, aus dem Leerraum zwischen zwei historischen Gewißheiten her zu verstehen.
Sein letztes Buch “ Vampyrotheutis Infernalis “ ist der Versuch einer Kulturkritik der Menschheit vom Standpunkt eines Tiefseekraken, also eines Lebewesens, das in einer dem Menschen entgegengesetzten Welt lebt. Der Vampyrotheutis Infernalis ist praktisch eine Umkehrung der menschlichen Existenz und damit auch eine spielerische und durchaus ironische Inkarnation der neuen Einbildungskraft. Hier wird deutlich, worum es Flusser eigentlich geht – eine Kritik der menschlichen Existenz aus einem Blickwinkel, der die gesamte Kulturgeschichte des Menschen auf den Kopf stellt. Obwohl Vilém Flusser das Ende des kritischen Denkens proklamiert, bleibt er selbst doch der kritischen Geste verhaftet. Vielleicht ist die neue Einbildungskraft, also das Verlassen der Kritik nur ein Vorwand, um besser kritisieren zu können.
O-Ton 10
( Vilém Flusser )
Wenn ich meinen eigenen Weg ansehe, so denke ich, ich habe zwei, drei Leuten gefolgt, die mir die Wege geöffnet haben. Einerseits Husserl und sagen wir, Heidegger und andererseits Wittgenstein und sagen wir Leute wie Popper. Aber hab sie in eine Richtung geführt, diese Leute, die nicht in ihrer Intention war, nämlich in die Kommunikationsproblematik. Und jetzt hoffe ich, daß andere Leute, die von mir ... Schauen Sie, ich habe die Frechheit, neue Wege einzuschlagen. Aus der Überlegung, daß, wo ich hingehe ja Neuland ist, infolgedessen, jeder Weg ist erlaubt, die anderen sollen mich dann korrigieren. Ich habe die Frechheit dort hinzugehen, weil ja niemand, soviel ich sehe, vorher dort war. Dann sollen andere kommen, und es korrigieren, ich bin sehr zufrieden, wenn man ausweist, daß ich mich geirrt habe.
Interviewer :
Ist da nicht auch ein gewisser “gout de provocation”, Herr Flusser ?
Auch. Na, selbstverständlich! Ein “gout de provocation“ und vor allen Dingen, was mein Malheur ist ... Ich werde Ihnen sagen, es ist ein stilistisches Malheur. Wenn man mich anhört und liest, hat man den Eindruck, daß ich behaupte. Aber das ist gerade was ich nicht will. Ich will gerade Zweifel erwecken. Es klingt alles was ich sag ... beginnt wie lauter Thesen.
Und noch dazu nicht gut gestützte Thesen. Weil man nicht heraushört, daß ich ja immer etwas Ironie mit drin habe. Ich nehm mich ja doch nicht vollkommen ernst. Und auch die Probleme nehm ich nicht vollkommen ernst. Was ich möchte ist provozieren. Im wahren Sinne des Wortes provozieren, hervorrufen.
*** *** ***
Marseille und Wiesbaden, März 1988

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prinzipiell gegen alle Collage ... HP Karl / künstlertheoretische Überlegungen, nach Flusser ...

Mitte der sechziger Jahre sah ich Antonioni´s Film „Blow Up“ ... der mit Pop, Sex + Crime den Zeitgeist (be)treffende Film berichtet von einem Londoner Modephotographen (David Hemmings), der im Park ein Liebespaar knipst und der beteiligten jungen Frau (Vanessa Redgrave) die ihn in dieser seltsamen Affäre aufsucht. Der mysteriöse Kriminalfall im Antonioni-Film ließ Kritiker zu spekulativen Höhenflügen abheben; Kinogänger rätselten untereinander. Das kunstvolle Dunkel um den toten Mann im Park - Realität oder Blendwerk? - wurde ausgeleuchtet und siehe da: etwa ein Viertel des ursprünglich geplanten Films ist nie gedreht worden, darunter Szenen, die Klarheit in den Mordfall gebracht hätten.
Für mich ergab sich nicht die Frage: „kann ich auch Fotograf werden ?“, - ich wurde es (auf einigen Umwegen, aber irgendwie doch direkt). Auch sollte nicht Modefotografie, der Umgang mit schönen Models und ähnliches, meinen Werdegang bestimmen, es waren Fotoillustrationen die mich bei Plattenfirmen und Verlagen bekannt machten. Ich habe das, was in der analogen Fotografie als Sandwichdias oder Doppelbelichtungen bekannt war, perfekt- und professionalisiert … und das mit Erfolg.
Heute ist die bildende, konzeptionelle Kunst meine Passion, und da ich beruflich als freier Fotograf in Hamburg u.a. mit Stern- Spiegel- Titelbildern mein Auskommen gesichert hatte, erscheint mir im eigentlichen nichts mehr unmöglich, kann Ideen haben, sie verfolgen und umsetzen, so (wie) ich es als Künstler und Autor möchte.
1981 habe ich Vilém Flusser auf dem Düsseldorfer Fotosymposium (Erika Kiffl) kennen gelernt, nach dem er den ersten Vortrag in Wien (Anna Auer) gehalten hatte. Später waren wir befreundet, ich habe ihn an verschiedenen Hochschulen eingeladen / vorgestellt (Hamburg, Braunschweig, Bielefeld) und wir hatten einen intensiven Briefaustausch auf den sich diese Überlegungen u.a. beziehen. Er schätzte meine beruflichen und künstlerischen Arbeiten aber das Wort und die Collage selbst waren ihm prinzipiell irgendwie zuwider.
Flusser: > Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust: (nämlich die des Fotografen und die des Apparates). Diese Bemerkung zu „Schizophrenie“ und zu „Selbstverkitschung“: Beispiel für Kitsch: Plastische Füllfeder, auf der man sieht, wie es auf den Petersdom schneit, wenn man sie schief hält. Medium „Füllfeder“, Medium „Romantische Malerei“ und Medium „Tourismus“ sind nicht übersetzt, sondern zusammengeklebt worden. Zweites Beispiel: Nazismus, der die arische Rasse reinhält, indem er sozialistische Maßnahmen trifft und Rußland besiedelt. Medium „Biologie“, Medium „Volkswirtschaft“ und Medium „Kulturkritik“ sind nicht übersetzt, sondern zusammengeklebt worden. Kitsch, im Gegensatz zur Metapher, ist unfruchtbar gefährlich. Die plastische Füllfeder ist schlechte Füllfeder, schlechte Romantik und schlechter Tourismus. Nazismus ist schlechte Biologie, schlechte Volkswirtschaft und schlechte Kulturkritik. Weil der Kitsch allen Medien „untreu“ ist und keines bereichert. Scheinbar voll von Information und tatsächlich völlig redundant, weil nämlich die eine Information von der anderen ausgelöscht wird. Kitsch ist das „Übel“. Auf Fotografieren angewandt: Solange der Fotograf schizophren ist, kann er aus einer der Seelen in die andere übersetzen. Er „zweifelt“ (oder dreifelt oder vierfelt, wie in dem „Christentum-Freudismus-Marxismus“- Beispiel). Aber sobald er die Seelen aneinanderklebt (sich mit dem Apparat identifiziert), ist er zweifellos verzweifelt, und Kitsch ist die Folge. Daher bin ich „prinzipiell“ gegen alle Collage. Und dies ist die Gefahr in Ihrem „interdisziplinären“ Vorschlag.
Mit anderen Worten: ausgezeichnet, von einer Seele in die andere zu springen, das macht selig. Aber ungut, mutterseelenallein durch Seelencollage zu werden, das macht kitschig. (Es gibt jetzt eine Ausstellung von Rauschenberg in St. Paul de Vance.)
Warnung: Dieser Brief ist als Modell für eine Serie von Mediensprüngen gemeint, läuft aber Gefahr, Collage zu werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, sein Stakkato-Charakter. Beispiel: Rehrücken mit Preiselbeeren (Sprung über Medien) macht selig; Hamburger (Mediumcollage) kann Durchfall erzeugen. Lesen Sie meinen Brief als Rehrücken, nicht als Hamburger. Alles Gute, auf bald, und weitere Bemerkungen zu Ihrem an Herausforderungen nicht armen Brief werden folgen.
Ja: vielleicht kann ich aus heutiger Sicht, Erfahrung und Kenntnis etwas dazu sagen … natürlich stellt sich auch die zeitgenössische Kunst dem alltäglichen Vorhandensein von Kitsch oder dem Stakkato-Charakter des Zappen eines suchtversessenen Fernsehzuschauers …
Aber: und nun komme ich zu meinen Hausaufgaben in der bildenden Kunst, die mit dem etymologischen Vorwurf des Schneiden und Kleben der Collagen nichts anfangen kann, nicht im analogen, nichts im digitalen Zusammenhang.
… hier schnell noch ein kurzer Blick in die Wikipedia-Kunstgeschichte, an der Flusser hier keinen Anteil nahm:
Kurt Schwitters, vor allem bekannt für seine Collagen, war Maler, Dichter, Raumkünstler und Werbegrafiker, der unter dem Kennwort Merz ein dadaistisches „Gesamtweltbild“ entwickelte. Seine Werke umfassen die Stilrichtungen Konstruktivismus, Surrealismus und Dadaismus. Schwitters zählt zu den einflussreichsten Künstlern des frühen 20. Jahrhunderts. / Museum der Bildenden Künste, Museum of Modern Art, San Francisco Museum of Modern Art usw.
Hannah Höch hat mit Ihren innovativen Collagen und Fotomontagen einen wesentlichen Beitrag zur DADA Bewegung geleistet und erntete damit große Anerkennung, und - wenn auch spät - Weltruhm. Zu Ihrem immensen Oeuvre zählen neben den Collagen und Montagen auch Portraits, Landschaften gegenständlich-surreale Pflanzenbilder und abstrakte Arbeiten auf denen sie das Collagematerial bis ins Tromp-d`oeil steigert, sowie die großformatige Collage „Schnitt mit dem Küchenmesser durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands“.
Also: den Collagen (auch den digitalen) haftet der Klebstoff an und zwar vor allem der Kleber, der die Teile der Collage / besser Montage verbindet. Ich nehme das für mich nicht in Anspruch, im Gegenteil: montiert ja / zusammengeklebt nein ... ich möchte den Zwischenraum zwischen den Teilen grundsätzlich freihalten wollen, um im Zwischenraum die Spannung zwischen den einzelnen Aussagen der Teile zu bewahren und dem Betrachter überlassen. Was und wie er dann die sogenannte Collage besser als Montage sehen kann, was und wie er etwas darin erkennt, das ist sein Anteil an der bildenden Kunst: „die Betrachter machen die Bilder“, Duchamp ...
Also: sind wir unterwegs in den Zwischenräumen, die uns offenstehen, die wir erkennen und annehmen. Hier sollen die Teile der Collagen nicht verbunden werden, hier können wir die Zwischenräume anerkennen und in ihnen agieren ... Eine Montage ist so, wie auch ein Foto im Kunstzusammenhang vom Fotografen nicht abgeschlossen hingestellt ist und bleibt, es wird erst vom Betrachter in der Beobachtung und Bezugnahme zur Erkenntnis oder besser noch zum Kunstwerk. Ist das der Zwischenraum, der unser Interesse weckt ? In den wir hineinschlüpfen, um:
mit Interesse dabei und dazwischen zu sein ?
Die Kraft der Bilder: die bildende Kunst ... Erfahrung, Wissen, Bildung ...
Wo kann ich anfangen ? Vielleicht da, wo wir in der Welt stehen: Uns umgibt ein Panorama, das uns umfasst, uns bildlich einschließt - wir können es nicht verlassen - wenn wir gehen, uns bewegen bleibt das Panorama mit uns gehend, abgewandelt zwar, aber erhalten.
Wir können uns auf einen Ausschnitt des Panoramas konzentrieren, diesen begrenzen. Damit nehmen wir ein Bild aus der Welt heraus, stellen es vor uns hin, stellen es dar. Es wäre eine Landschaft, wenn wir im Freien ständen. Es ist ein virtuelles Bild, das nur in unserem Kopf existiert.
Nun kommt ein Maler und realisiert daraus sein Bild auf einer Leinwand.
Nun kommt ein Fotograf und nimmt diesen bestimmten Ausschnitt mit seiner Kamera auf.
Im Ablauf der Kunstgeschichte haben sich die Darstellungsweisen geändert. Wir blicken auf Höhlenmalerei, kirchliche Auftragsarbeiten und auf die Werke freier Künstler, die ihre Arbeiten, seit Albrecht Dürer, signieren. Schauen wir auf derartige Bilder, auf die Bilder der Moderne, der zeitgenössischen Kunst - was sehen wir ? Wir sehen ein Bild und sehen uns selbst vor dem Bild als Betrachter stehen, der mit einem mal selbst im Bild anwesend ist und sich als betrachtender Betrachter erkennt, wie uns Caspar David Friedrich gezeigt hat.
Diese Dopplung, Triangulierung ist iterativ weiter zu denken und wir wollen uns, um nicht abzuschweifen, auf das konzentrieren, was wir sehen. Aber das, was wir sehen, ist eingeklammert in unsere Art und Weise der Betrachtung. Der Ausschnitt, das Bild ist nicht mehr das, was wir auf den ersten Blick meinten zu sehen, zu erkennen. Das Sehen des Bildes führt auf mich selbst zurück, auf Jemand, der in der Welt steht, sie bildhaft erfährt, erlebt und damit in die Falle der Deutung, der Ausdeutung, der Bedeutung tappt. Das Bild, aus welcher Zeit, aus welcher Kunstrichtung auch immer: wir haben es nicht mit dem Anschein der Oberfläche, mit deren vorbildlichen, vorschriftlichen Aussage zu tun - das Bild wirft uns auf das zurück, was wir hinter der Oberfläche vermuten, was wir uns dort hinter dem Bild zumuten wollen, können oder möchten – aber auch, was wir uns eigentlich verbieten: da sind wir wieder unterwegs in den Zwischenräumen, die uns offenstehen, die wir erkennen und deren Spannung wir annehmen können.
Das Bild, über das wir sprechen, kommt von einem Künstler, Fotografen, einer x-beliebigen Person, „was wollte uns der Künstler damit sagen ?“ diese Frage ist nicht nur unbeliebt bei dem, an den sie gerichtet ist, sie gehört gar nicht in den Kunstdiskurs. Die Frage nach der Aussage muss der Betrachter an sich selbst stellen, nur von ihm selbst ist eine sinnvolle Antwort zu erwarten. Vielleicht ist das die Macht und die Kraft der Bilder, die uns auffordert, uns zwingt, das Weltwissen in uns selbst aufzuspüren, zu entdecken, zu er- und begründen. Vielleicht ist das die Bildung, die wir im Umgang mit Bildern erfahren können, vielleicht ist das bildende Kunst, Bildung, die vom Bild ausgeht und sich frei von wissenschaftlichen Bezügen, von axiomatischen Anbindungen auf uns zu bewegt.
Flusser: > Einbilden: Wenn demnach die technischen Bilder eigentlich Mosaiken sind und keine echten Flächen, wie können wir sie als Bilder ansehen? - Eben dank der neu in uns emportauchenden Fähigkeit, uns Abstraktestes (Punktelemente) als etwas Konkretes einzubilden. Das allerdings erfordert von uns, statt zwischen »real« und »fiktiv« nunmehr zwischen »konkret« und »abstrakt« zu unterscheiden. Eine erkenntnistheoretische, ethisch-politische und ästhetische Revolution ist im Gange.
Nun, hier stellt sich wieder die Frage, ob wir die Mosaiken immer verbinden sollten, oder die Spannung der offenen Zwischenräume aushalten, vielleicht darin eine Ent-Spannung der theoretischen Vorgaben sehen könnten.
Vielleicht: komme ich mit dem Bezug zu meinen Mediensprüngen (in unserem Briefwechsel) wieder mit Vilém Flusser in Einklang:
Flusser: > „Mediumsprünge“: Es ist das Problem der Übersetzung. Auf griechisch heißt „Übersetzung = Metapher“. Zum Beispiel: Wenn ich das englische Wort „power“ ins deutsche „Macht“ übersetze, dann verwende ich „power“ metaphorisch. Oder: Wenn ich den Begriff „Analyse“ aus dem Medium der Chemie ins Medium der Psychologie übersetze, dann gebrauche ich ihn metaphorisch. Metaphern sind zugleich fruchtbare und gefährliche Strategien: Sie bereichern das Medium, in welches ich springe, und sie verfälschen das Medium, aus welchem ich springe. „Power“ heißt nicht „Macht“, sondern „Können“, „Analyse“ in der Chemie ist nicht „Entbergung“, sondern „Zersetzung“. Wenn ich mit malerischen Kriterien fotografiere, bereichere ich das Repertoire der Fotografie und bin der Malerei „untreu“. Daher der bekannte Grundsatz der Übersetzung: „So treu wie möglich, und so frei wie nötig“. Eine exakte Formulierung der Freiheit. Aber es gibt dabei noch etwas anderes. Um aus einem Medium in ein anderes springen zu können (aus einem „Universum“ in ein anderes), muss ich beide vergleichen (zum Beispiel ein englisch-deutsches Wörterbuch haben). Dieses Vergleichen kann ein „Meta-medium“ genannt werden. (Das, was Sie „interdisziplinär“ nennen.) Dieses Metamedium ist aber selbst ein Medium, zum Beispiel: physikalische Chemie. Und dann muss man, wenn man konsequent sein will, aus diesem Metamedium in ein anderes springen wollen. Zum Beispiel aus dem Metamedium „Foto-Malerei“ ins Medium „Musik“. Und um das zu tun, muss man ein Metameta-medium haben. Eine Stufenleiter aus Metaphern. Ein kolossal berauschendes Unternehmen, etwa so wie Seiltanzen oder Feuerwerke. Dafür ein Beispiel: „Sünde“ aus dem Medium Christentum in die Freudische Analyse mit „Komplex“ übersetzen, daraus in den Marxismus mit „Verfremdung“ übersetzen, und daraus ins Christentum mit „Glaube“ rückübersetzen, daher „Sünde“ = „Glaube“. Sie sehen: Die Fruchtbarkeit und Gefährlichkeit der Metapher. Es ist nicht schwer, das Gesagte auf das Gebiet der technischen Bilder zu übersetzen. Das überlasse ich Ihnen. Denn das muss gemacht sein.
Vielleicht: kommen wir mit diesem Versuch dem Unfassbaren der Wolken (das die Fotografie nicht zum festgehaltenen Sehen auffordert) näher - und sehen die mosaiken Fototeile der Montagen nicht grundsätzlich, nicht immer so, dass wir „uns Abstraktestes als etwas Konkretes einzubilden“ haben ...

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für eine KünstlerTheorie des Zwischenraums, nach Flusser ... HP Karl / rückblickend kulturtheoretische + künstlertheoretische Überlegungen ...

Wie kommt es zu diesem Titel, der sicherlich eine gewisse Voraussage, Zusammenfassung dessen sein möchte, was im nachfolgenden beschrieben und zu lesen ist ? In einer syntaktischen / semantischen Betrachtung wird klar, es handelt sich um einen Hinweis auf Vilém Flussers „Für eine Philosophie der Fotografie“ und den Bezug zur Setzung des Komas laut Oswald Wieners „die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman“ und das „ nach“ knüpft an Joseph Kosuths „art after philosophy an“
Exkurs: Joseph Kosuth verknüpft 1995 Kunst und Kunstlehre als Professor an der Stuttgarter Kunstakademie:
„Meine Arbeit basiert auf dem Grundgedanken, daß Künstler mit Bedeutung arbeiten und nicht mit Form und Farbe. Bei der Herstellung von Bedeutung (welche ebenso das Auslöschen oder die Aneignung schon bestehender Bedeutung beinhaltet) hat der Künstler die Freiheit, alles zu verwenden, was schon in der Welt vorhanden ist. Es kann keine neuen ‚Formen‘ und ‚Farben‘ geben ohne eine Transformation ihrer Bedeutung für die Lebenden.“
Das 20. Jahrhundert führte eine Zeit herauf, die ‘das Ende von Philosophie und der Beginn von Kunst’ heißen könnte. Ich meine das selbstverständlich nicht im wortwörtlichen Sinn, sondern verstehe darunter eher die ‘Tendenz’ der Situation. Eine gewisse Sprachphilosophie kann als Erbe des Empirismus gelten, aber es ist eine Philosophie mit nur einem Gang. Und es gibt gewiß eine ‘Kunstverfassung’ für Kunst vor Duchamp, aber ihre anderen Funktionen oder Daseinsgrundlagen sind so ausgeprägt, daß ihre Fähigkeit, eindeutig als Kunst zu wirken, ihre Kunstverfassung derart drastisch begrenzt, daß sie nur in minimaler Weise Kunst ist. In keiner mechanistischen Hinsicht gibt es eine Verbindung zwischen dem ‘Ende’ der Philosophie und dem ‘Anfang’ der Kunst, aber mir erscheint dieser Sachverhalt doch nicht völlig zufällig. Obgleich dieselben Gründe für die beiden Ereignisse verantwortlich sein mögen, ist die Verbindung von mir. Ich bringe all das vor, um die Funktion der Kunst und anschließend ihre Lebensfähigkeit zu analysieren. Und ich tue es, um andere in die Lage zu versetzen, die Begründung meiner Kunst und, durch Erweiterung, derjenigen anderer Künstler - zu verstehen, und ebenso, um für ein deutlicheres Verständnis des Ausdrucks >Conceptual Art< zu sorgen.
Die Funktion der Kunst:
‘Die Hälfte oder noch mehr der besten neuen Arbeiten in den letzten Jahren ist weder Malerei noch Skulptur.’ Donald Judd (1965)
‘Der Gedanke wird eine Maschine, die die Kunst macht’. Sol LeWitt (1965)
‘Die einzige Sache, die sich über Kunst sagen läßt, ist, daß sie eine einzige Sache ist. Kunst ist Kunst als Kunst, und alles andere ist alles andere. Kunst als Kunst ist nichts als Kunst. Kunst ist nicht, was nicht Kunst ist.’
Ad Reinhardt (1963)
‚Die Bedeutung ist der Gebrauch.’
Wittgenstein
Das „Fotografieren gegen den Apparat“ (innerhalb des Apparate-Programms) soll laut Vilém Flusser nicht redundante, sondern informative Bilder erzeugen … was aber bedeutet (wenn verlangt wird, daß das Bild zu lesen sein soll), daß es in den Kunst-Diskurs gerade aufgrund seines informativen Charakters nicht aufgenommen werden kann, da die Offenheit, also die Interpretationsmöglichkeit des Betrachters gerade dann nicht gegeben ist (Duchamp: die Betrachter machen die Bilder) Flusser nimmt für die künstlerische oder Kunst-Fotografie in Anspruch, dass sie völlig inoperativ und zu garnichts gut sein zu dürfe … dagegen ist nichts einzuwenden, aber: indem die Information des Bildes in den Vordergrund gestellt wird, erstickt und erlischt die Eigenschaft der Zwecklosigkeit - derart können sich die Fotografien nicht auf kunst- und sinnvolle Weise dem Betrachter zur Interpretation, zur Aneignung, zur eigenen Auslegung öffnen …
in der Einführung zu Joan Fontcubertas „Herbarium“ beschreibt Flusser diesen Anspruch, als die prominente Eigenschaft der Serie manipulierter Pflanzenfotos:
»Information« ist zu einem Zentralbegriff der verschiedensten Disziplinen geworden, und wir können beobachten, wie diese Disziplinen in ihm konvergieren. Biologie und Fotografie sind Beispiele hierfür. Die Biologie kann als die Wissenschaft von den Veränderungen in der genetischen Information der Lebewesen bezeichnet werden. Und sie beginnt, eine Technik hervorzubringen, die sogenannte Gentechnik, mit deren Hilfe es möglich sein soll, genetische Informationen zu manipulieren und neue Arten von Tieren, Pflanzen (und wahrscheinlich auch »Menschen«) zu erzeugen.
Um eine neue Weizenart zu züchten, muß man zunächst ein Modell der gewünschten Art entwickeln; erst dann kann man versuchen, die Natur entsprechend dem Modell zu beeinflussen. Wie sieht nun aber ein solches Modell aus? Nun, wohl ungefähr so wie Fontcubertas Fotos. Mit dem Unterschied allerdings, daß das Modell des Genetikers »operativ« zu sein hat, also der Natur aufgesetzt werden kann, und daß es zu etwas »gut« sein muß, also zu Arten führt, die für die Industrie oder für die Landwirtschaft nützlich sind. Fontcubertas Modelle indes können sich erlauben, völlig inoperativ und zu garnichts gut sein zu dürfen. Und eben das macht sie so komisch.
Aus gerade diesem Grund halte ich Fontcubertas Bilder für relevant, das Problem der Information im biologischen Diskurs anzugehen. Denn sie zeigen, in ihrer Komik, daß sich wissenschaftliche Modelle von streng künstlerischen dadurch unterscheiden, daß sie wissenschaftlich operativ und zu irgend etwas gut zu sein haben. Nun sind sowohl »operativ« wie »gut« ethische Begriffe:
Sie meinen Werte, und sie sind pragmatisch. Sie sind, mit anderen Worten, unwissenschaftliche Begriffe, da ja die Wissenschaft anstrebt, ein wertfreier Diskurs zu sein. Insofern sind Fontcubertas Bilder nicht unwissenschaftlicher als wissenschaftliche Modelle, sondern unpragmatischer. Und das ist deshalb außerordentlich komisch, weil man sie somit auch als »reiner« betrachten kann, womit sich das Erkenntnisproblem stellt: Hat es noch einen Sinn, die biologischen Modelle für »wahrer« als Fontcubertas Bilder zu halten? Oder ist nicht eher die Botanik eine Art von vernünftigem (sprich: bürgerlichem) Fontcuberta?
Die Natur ist dumm, und sie wird auf Dauer jede Art von Pflanze nach der Methode des blinden Irrtums erzeugen, einschließlich - auf sehr lange Sicht - der Arten, wie sie Fontcuberta fotografiert hat. Im Gegensatz zu Fontcuberta sah Karl Blossfeldt seine Fotografien als Unterrichtsmaterial und nicht als eigenständige künstlerische Leistung. Er meint, dass die „Photographie bestes Hilfsmittel für Herausarbeitung von Pflanzendetails“ sei und verwendete die Fotografie aufgrund praktischer Vorteile. Blossfeldt selbst war eher Enthusiast für Pflanzen als professioneller Fotograf. Mit seinen genauen Studien entdeckte er graphische Details und ging botanisch-wissenschaftlich vor, indem er seine Fotografien mit lateinischen Namen beschriftete. Damit knüpfte er an die Tradition der Herbarien an. Flusser zitiert nicht, vergleicht nicht (hier wäre der Karl Blossfeldt heranzuziehen gewesen) benennt keine anderen Theoretiker, die über Fotografie geschrieben haben (hier wären Roland Barthes und Walter Benjamin aufzurufen) … daß er selbst überhaupt Fotografen zugesteht, gegen den Apparat fotografieren zu können, beschränkt sich, wie hier auf Joan Fontcuberta und anderswo auf Andreas Müller-Pohle, die nach meiner Einschätzung mehr oder weniger ästhetisch gegen den Apparat argumentieren und sozusagen als Fotografen künstlerische Fotografie oder Kunst machen wollen … Vielleicht: sei an diesem Punkt darauf hinzuweisen, daß offensichtlich mehr Personen, die mit ihrem künstlerischen Anliegen nicht aus der Fotografie heraus argumentieren, zu fotografischen Werken kommen, die als Kunst anzusehen sind, wie Ute Eskildsen hier ähnlich ausführen wird …
Der zu Flussers Zeit oft gestellten Frage: „Kann Fotografie Kunst sein ?“ gehen wir einmal nach, indem wir an das Fotosymposium „Neue Wege in der Fotografie“ in Schloss Mickeln bei Düsseldorf im Jahre 1980 erinnern … dort sind Flusser und ich uns zum ersten mal begegnet und haben einen ausführlichen Briefwechsel begonnen … hier ein Ausschnitt aus den Interviews zum Thema „Fotografie als Kunst“ … Jörg Krichbaum: Verstehen Sie die Fotografie in ihrer primären Bedeutung als Kunst, so wie man auch Literatur und Malerei in erster Linie als Kunst versteht; oder halten Sie den Begriff »Kunst«, angewendet auf die Fotografie, für ungeeignet?
Ute Eskildsen: Ich meine, die Frage: »Fotografie als Kunst« ist falsch gestellt; es wäre so wie Radierung als Kunst. Man sollte fragen: ist das fotografische Verfahren geeignet für künstlerische Aussagen, und da würde ich sagen: natürlich.
Jörg Krichbaum: Der Einfluß der Fotografie (ganz allgemein) auf die heutige Kunst ist unübersehbar. Halten Sie es, mit einem Blick auf die immer zahlreicher auftretenden fotografieren den Maler, Aktions- und Performance-Künstler, für denkbar, daß die entscheidenden Erneuerungen der Fotografie von diesem Personenkreis initiiert wird — und nicht von Fotografen? Ute Eskildsen: Die Geschichte zeigt das, d. h. nicht nur von bildenden Künstlern. Wenn man die Geschichte der fotografischkünstlerischen Bewegung anschaut, sind es fast immer Outsider gewesen, Amateure oder Nichtfotografen, die - und das ist auch unterschiedlich zu Amerika, da muß man bedenken, daß wir seit dem Ende des 19. Jahrhundert eine ziemlich festgefügte Berufsgruppe (Fotografieren als Handwerk) haben und daß dieses Handwerk immer in Anpassung zum Publikum stand — eine Erneuerung - nennen wir sie nicht Neuerung, also nicht Neue Wege, wie unser Symposium heißt, sondern die Erneuerung der Fotografie vorangetrieben haben. Ich meine Outsider im Sinne von vielleicht künstlerisch ausgebildeten Leuten, aber nicht unbedingt in der Tradition der Fotografie stehend oder sich ganz darauf beziehend.
In der Spezifikationsphase der Fotografie ist eine Auseinandersetzung der Fotografen mit ihrem Medium sinnvoll und richtig gewesen, diese Arbeit ist aber als, so gut wie abgeschlossen, anzusehen … nun ist es an der Zeit die Fotografie so zu nutzen, einzusetzen, wie sie ist und den Anspruch der bilden Kunst außerhalb des Apparate-Programms in eine konzeptionelle Arbeit zu verlegen … Exkurs: – als bildender, konzeptioneller Künstler befinde ich mich außerhalb des von Flusser eingeführten Foto-Systems, das den Fotografen als Funktionär des Apparates bindet und verhandele ein Anliegen aus der bildenden Kunst heraus. Die Ausgangsplattform ist die kunstwissenschaftliche Beziehung und Wechselwirkung zwischen der Entwicklungsgeschichte der Malerei und der Fotografie (siehe: Spezifikation und Kunst am Beispiel der Fotografie). Unter anderem ergibt sich daraus auch ein, aus diesen Bezügen nahe liegender Kunstbegriff, den Flusser als Kulturtheoretiker nicht gesehen, nicht wahrgenommen oder nicht berücksichtigen wollte.
Vilém Flusser bezog sich in seiner Argumentation eigentlich nie auf Arbeiten bildender zeitgenössischer Künstler … nur einmal qualifizierte er in einem Brief aus Robion an mich Robert Rauschenberg ab, der gerade in der Nähe ausgestellt wurde …
Kitsch ist das „Übel“. Auf Fotografieren angewandt: Solange der Fotograf schizophren ist, kann er aus einer der Seelen in die andere übersetzen. Er „zweifelt“ (oder dreifelt oder vierfelt, wie in dem „Christentum-Freudismus-Marxismus“- Beispiel). Aber sobald er die Seelen aneinanderklebt (sich mit dem Apparat identifiziert), ist er zweifellos verzweifelt, und Kitsch ist die Folge. Daher bin ich „prinzipiell“ gegen alle Collage. Und dies ist die Gefahr in Ihrem „interdisziplinären“ Vorschlag. Vilém Flusser in einem Brief an mich. Sagen wir so: den Collagen (auch den digitalen) haftet der Klebstoff an und zwar vor allem der Kleber, der die Teile der Collage / besser Montage verbindet. Ich nehme das für mich nicht in Anspruch, im Gegenteil: montiert ja / zusammengeklebt nein ... ich möchte den Zwischenraum zwischen den Teilen grundsätzlich freihalten wollen, um im Zwischenraum die Spannung zwischen den einzelnen Aussagen der Teile zu bewahren und dem Betrachter überlassen. Was und wie er dann die sogenannte Collage besser als Montage sehen kann, was und wie er etwas darin erkennt, das ist sein Anteil an der bildenden Kunst. Vilém Flusser: „Mediumsprünge“: Es ist das Problem der Übersetzung. Auf griechisch heißt „Übersetzung = Metapher“. Dafür ein Beispiel: „Sünde“ aus dem Medium Christentum in die Freudische Analyse mit „Komplex“ übersetzen, daraus in den Marxismus mit „Verfremdung“ übersetzen, und daraus ins Christentum mit „Glaube“ rückübersetzen, daher „Sünde“ = „Glaube“. Sie sehen: Die Fruchtbarkeit und Gefährlichkeit der Metapher. Es ist nicht schwer, das Gesagte auf das Gebiet der technischen Bilder zu übersetzen. Das überlasse ich Ihnen. Denn das muss gemacht sein. Hier sind die Begriffe Übersetzung und Zwischenraum gleichermaßen benannt und sie spielen bei Flusser und bei mir ebenso deutlich eine wesentliche Rolle … vielleicht ist hier Annäherung und Ausgleich zwischen dem kulturtheoretischen, gesellschaftskritischen Anliegen Flusser´s und meinen künstlertheoretischen, unabgeschlossenen Überlegungen in Sicht / schön wär´s und warum auch nicht ? … PS.: ich selbst bin kein Autor, Maler oder Fotograf - ich bin ein konzeptioneller Künstler (wobei konzeptuell eher eine abgeschlossene Stilrichtung beschreibt und konzeptionell den strukturellen Umgang im Sinne der Kunst) … also sage ich es ganz offen: der bildende Künstler kann alles zum künstlerischen Material machen und damit umgehen, wie er möchte, wenn er es denn kann … Siehe auch: „Vilém Flusser und das fotografische Bild“ Gespräch zwischen Hubertus von Amelunxen und Jan Dibbets / Video zu Vilém Flusser bei Vimeo / 2016.

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zur KünstlerTheorie ... zur EinbildungsKraft ... HP Karl / rückblickend kulturtheoretische + künstlertheoretische Überlegungen ...

... zur KünstlerTheorie ...
...Der Begriff KünstlerTheorie unterscheidet sich von wissenschaftlichen, sowie allen anderen Theorien, auch von denen aus der bildenden Kunst, also: von Manifesten, DaDa u.a.. Der Künstler theoretisiert, indem er an der Bruchstelle der Moderne ansetzt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die Kunst von der Erscheinung des Werkes zu ihrer Konzeption hin verändert. Die konzeptionelle Wegbereitung, die Begleitung der Kunst und diese selbst, werden vom Künstler innerhalb seiner eigenen Zielsetzung betrieben. Das Sprechen und/oder Schreiben dabei ist eine KünstlerTheorie. Diese KünstlerTheorie ist nicht ein Teil seiner Kunst, sondern diese selbst. Allerdings geht es hier nicht um Arnold Gehlens ´Kommentarbedürftigkeit der Kunst´, nicht um den plausiblen Kommentar, schon gar nicht um eine Erklärung, die KünstlerTheorie ist ebenso Werk, also bildende Kunst. Die KünstlerTheorie ist durch eine Ästhetik im weitesten Sinne des wahrnehmenden Denkens geprägt.
Wir denken u.a. an ein Erfassen originärer Sachverhalte, die nur wahrnehmungsartig erschlossen und nicht rational gewonnen werden können. Es geht gg.falls darum, Erstbedeutungen auf die Spur zu kommen - gerade auch solchen, die das Sinnenhafte überschreiten, siehe: Welsch, Wolfgang: ‚Ästhetisches Denken‘.
Bei Sloterdijk heißt das „Ästhetik im weitesten Sinne“, und er hält den Abstand zwischen dem Ästhetischen und dem Logischen heute für unangebracht. „Etwas merken ist Wahrnehmung, ist Ästhetik im weitesten Sinne und bleibt bis in die letzte Instanz die Angelegenheit des Denkens;“ Sloterdijk, Peter: ‚Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch‘.
Da es sich hier, bei dem, was wir verhandeln, um konzeptionelle Kunst handelt, unterscheidet Michael Lingner folgendermaßen: „Konzeptkunst, d.h. konzeptuelle Kunst, betrachte ich als eine, freilich die extremste Ausformung konzeptioneller Kunst. Insofern bezeichnet der Begriff >konzeptuell< gleichsam etwas Stilistisches, dagegen der Begriff >konzeptionell< etwas Strukturelles;“ Lingner, Michael: ‚Kunst als Projekt der Aufklärung jenseits reiner Vernunft‘.
Wenn der Kritiker die Selbstäußerungen der Künstler heranzieht, benutzt er sie nicht als Interpretationshilfe, denn die Theorie ist nicht die Theoretisierung der Kunst, sondern diese selbst. (...) Die Ideen (sind) die Sache selbst, als diese erscheinen sie hier; die Grenzen zur Philosophie etc. sind offene“ Gronert, Stefan: ‚Künstler-Theorie und Bildbegriff ‘
Das An- und Aufgebot der Künstlertheorien ist vielfältig, auch haben sie zuweilen nicht einmal den Verständlichkeitsstandard des gehobenen Feuilletons, da sie nur bedingt auf diese Art von Verständlichkeit angelegt sind. Dafür wurde der Einsatz von Witz, Ironie oder Behauptung, Quasiphilosophie, Pseudowissenschaft auch Metaphorik gewählt, um die notwendige Benennung aus künstlertheoretischer Sicht einzukreisen; (von Kandinsky, Mondrian, Duchamp und Schwitters zu Warhol, Kosuth, Polke und Richter und weiter bis an die Grenze von zeitgenössischer Kunst).
Diese, meine KünstlerTheorie ist eine KünstlerTheorie des Zwischenraums, sie handelt von der Collagenhaftigkeit unseres Weltbildes, das aus Bruchstücken besteht und von uns immer wieder neu montiert wird (also auch eher als Montage verstanden sein möchte) aber nicht als ein Ganzes zu sehen, zu erfassen, einzubilden ist - also derart auch nicht anzuerkennen sein soll. Der Zwischenraum möchte uns erhalten bleiben, so, dass die Bilder, die Bildausschnitte, die Bruchstücke auch die Sprachfetzen weiter klar gesehen / gehört werden können und sich nicht illustrativ aufeinander beziehen lassen, sich nicht gegenseitig verwischen und aufheben. Der Zwischenraum liegt in unserem eigenen Interesse und ist etymologisch im „dabei und dazwischen sein“ angelegt.
Ich möchte hier den Bezug zu Vilém Flusser aufzeigen, indem ich unterschiedliche konzeptionelle Ansätze und Künstlertheorien (siehe: KünstlerTheorien überblickt) vorgestellt und die Grenze aufgezeigt habe, an der Künstler und Kunstwissenschaftler gemeinsam, aber mit unterschiedlichen Voraussetzungen, arbeiten. Ich will diese Grenze nicht aufweichen oder auslöschen, sondern im Gegenteil das positive Element der Grenze nutzen und betonen, dass ein besonderes Ding (oder ein Ding an einer besonderen Grenze) als ein KunstDing und als ein WissenschaftsDing zugleich anerkannt und definiert werden kann (oder könnte).
Zum Schluß möchte ich, indem ich ein glückliches Ineinanderfallen von Theorie und Praxis für möglich erachte, grundsätzlich davon ausgehen, dass auch Theoretiker Kunst betreiben können, ja, dass gerade sie beste Voraussetzungen für eine konzeptionelle Kunst haben, deren Ästhetik sich (sozusagen von allein) einstellt. Ich glaube, dass es diese Kritiker, Kuratoren und Kunstwissenschaftler bereits gibt, die mitunter die besseren Künstler sein könnten …

... zur EinbildungsKraft ...
Den Begriff Einbildungskraft hat Vilém Flusser von Kant übernommen und weiter gedacht. In seinen Briefen hat er mir mehrfach das Einbilden und sich selbst das Aufschreiben zugeteilt. Sein Denken hat er mit Transformieren, Übersetzen, mit Metapher und Einbildungskraft gleichgesetzt, aber damit ist es nur bedingt beschrieben oder bezeichnet. Er hat sich kaum auf die Moderne oder schon gar nicht auf die zeitgenössische Kunst bezogen, auch keine Namen fallen lassen, wie doch zuweilen in seinen philosophischen Bezügen. Auch in privaten Gesprächen gab die Einbildungskraft den Ton an, der sich ja in wundervollen Anregungen, außerordentlichen Behauptungen, erotischen Anspielungen und dramatischen Gesten äußerte. Seine beneidenswerte Fähigkeit, sich zu allem und jedem ganz besonders zu äußern, erfuhr ich einmal von ihm, als er über seine Beziehung zu Literatur, zum Buch an sich sprach und seine Leidenschaft, sein Interesse sich ins Erotische steigerte … ungefähr so: „Ich nehme ein Buch mit dem Rücken aus dem Regal, wende es mir zu, spreize die Seiten und vertiefe mich darin …“.
Michael Lingner: Nicht nur ist die in der Romantik die Reflexion sich einverleibende Kunst insofern aufklärerisch, als sie selbst denkt und sich ihrer eigenen Vernunft bedient. Insbesondere klärt sie auch den von der Philosophie des Rationalismus verabsolutierten Verstand über seine Grenzen auf. Darin besteht die >Dialektik der Aufklärung<, daß die Kunst unter dem Vorzeichen des Antirationalismus ihre begriffliche, rationale Struktur entdeckt und entwickelt, aber mit dieser Expansion der Rationalität gerade deren Relativierung bewirkt. An die Stelle des relativierten Verstandes tritt in der Romantik als das bevorzugte Vermögen des menschlichen Gemütes die Einbildungskraft. Ihre dominierende Stellung wird von Schelling damit begründet, daß sie >auch das Widersprechende zu denken und zusammenzufassen< vermag und so, indem sie den an sich bestehenden Widerspruch zwischen dem Bewußtlosen und dem Bewußten auflöst, das Kunstwerk ermöglicht;
Paul Virilio: Ich bin kein akademischer Mensch mehr. Wenn ich schreibe, visualisiere ich das, was ich schreibe. Und wenn ich nichts sehe, kann ich nicht denkenv. / Digitaler Schein
Vilém Flusser: Die Welt ist nur noch phänomenal, sie ist nur noch Erscheinung und das Manifeste hat sich aus ihr verloren. Infolgedessen sind wir jetzt im Zweifel über die Realität, die Objektivität der von uns eingebildeten Welt. Wenn wir diese Einbildungskraft ins Spiel bringen, setzen wir uns in den Zweifel über die Objektivität unserer Einbildungen. Diese Zweifel kann man überwinden, wenn man nämlich das, was man sich einbildet, erstens einmal festhält, in ein Gedächtnis füttert, zum Beispiel auf Höhlenwände in Lascaux, und zweitens anderen zugänglich macht, indem man es kodifiziert, also intersubjektiviert - indem man aus der Subjektivität in die Intersubjektivität ausbricht.
Harald Brandt: In Flusser´s auf vier Dimensionen aufgebauten Evolutionsmodell ist das Entstehen der “ neuen Einbildungskraft “ oder des “ neuen Denkens “ klar nachvollziehbar - nicht mehr Abstraktion, sondern konkrete Geste, nicht mehr “ aus der Welt herausgehen “, sondern “ auf die Welt Zurückschlagen “, wie Vilém Flusser sagt. (…)
Das Herausfallen aus der Kausalkette von dem Flusser spricht, liefert vielleicht den Schlüssel, um die neue Einbildungskraft zu verstehen. Die Ähnlichkeit mit dem sogenannten magischen Denken, das unserem kritisch-diskursiven Denken vorausgegangen ist, scheint auf den ersten Blick sehr groß zu sein. Sowohl im magischen, als auch im neuen, computierenden Denken geht es nicht darum, die Welt zu verstehen und aus diesem Verständnis Handlungsmodelle zur Veränderung der Wirklichkeit abzuleiten, sondern es geht um die künstliche Schöpfung von Objekten, beziehungsweise von Szenarii, die durch ihre magische Kraft, beziehungsweise die Wahrscheinlichkeit, mit der sie aus der Zukunft ankommen, unsere Lebenswelt beeinflußen.
Steffi Winkler: Vilém Flusser erzählt immer wieder Geschichten über Umbrüche und Transformationen: über die Krise der Wissenschaften und etablierter Denkstrukturen, über das Aufkommen neuer Technologien und deren Potentiale aber auch Gefahren, über die Transkodierung des linearen Denkens der Schriftkultur in ein vernetztes Denken mit „technischen Bildern“. Dabei variiert er unzählige Perspektiven, übersetzt zwischen Sprachen und Kulturen und übersteigt in der Komposition seines Denkens die traditionelle Gegenüberstellung von Wissenschaft und Kunst. Das reicht tief in die Anfänge der Dynamik seines Denkens zurück: Noch als Jugendlicher in Prag verfasst Flusser Gedichte und ein Theaterstück, beginnt ein Studium der Philosophie und scheint von einem Dasein als philosophischer Schriftsteller im Sinne Kafkas oder Camus’ zu träumen. (…)
Als er nach seinen wichtigen Bezügen, wie Platon, Husserl und Kafka gefragt wird, betont Flusser „ästhetische Gründe“. Vor allem die „dramatische Schönheit“ habe Platon zu einer Grundlage seines Denkens gemacht, er schwärmt von Kafkas hervorragendem Witz und bezeichnet seinen eigenen Denkstil als satirisch, nicht zuletzt aber ergänzt er mit Nachdruck Camus als „Modell des ehrlichen, anständigen, unsystematischen Denkers“ (…)
1990 betont Flusser in einem Interview, der Begriff „Bild“ sei nicht gut geeignet für „synthetische Bilder“, es seien eher „Projektionen aus der Abstraktion in die Konkretion“ mithilfe einer „Einbildungskraft“, die eines „ästhetischen Standpunkts“ bedürfe. Das ist die Kraft, die in der Ausdrucksform der synthetischen Bildern das Potential haben könnte, uns von der Tyrannei des linearen, logisch-kausalen Denkens der Schriftkultur zu befreien. Flusser zog andere in seinen Bann, seine Lehre regte die anderen zum Denken an, zum Ausdruck in Schriftstücken oder Kunstwerken.
Steffi Winkler, etwas unwissenschaftlich zitiert aus: Denken neu denken mit Vilém Flusser / Flusser Studies 22

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Vilém Flusser´s „Höllensturz“ ... Maren Bünemann / aus der Erinnerung ...

Vilém Flusser wurde in den 1980er Jahren von Peter Dimke zu einem Fotosymposium an die Hochschule für Bildende Künste, Hamburg, FB Visuelle Kommunikation, eingeladen. Anlass hierfür war Flusser´s Buch >Für eine Philosophie der Fotografie< Tatsächlich kam er erstmals mit Edith Flusser, seiner Frau, aus dem Exil in Robion, Südfrankreich, wieder nach Deutschland, nachdem er und sie während des Nationalsozialismus als Juden aus der Tschechoslowakei über England nach Brasilien geflohen waren.
Vilém und seine Frau übernachteten bei uns in der Schröderstiftstraße. Hier wurden sehr intensive Diskussionen geführt. Während des Gesprächs stand Vilém Flusser häufig auf und ging gestikulierend hin und her. Er bemerkte nicht, dass er dabei die Galerietreppe sehr dicht hinter sich hatte. Es kam, wie es kommen musste, er machte einen Schritt zu weit zurück und stürzte kopfüber die Treppe hinunter. Erschrocken sprangen wir auf und eilten die Treppe nach unten, wo er, zwar mühsam, aber doch wieder aufstehen konnte. Die nachfolgenden Nächte konnte er nur sitzend schlafen, da die Rückenprellungen doch nicht unerheblich waren.
Er nahm es aber auf seine ganz besondere Art hin und bemerkte dazu nur: „Das war wie der ‚Der Höllensturz der Verdammten‘ !“

(s. Wikipedia: Gemälde von Peter Paul Rubens)

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